News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Leben .  Medizin und Gesundheit 
 
Neue These: Lärm doch nicht schädlich fürs Ohr?  
  Ein andauernd hoher Geräuschpegel kann nach Ansicht des Gießener Gehörforschers Gerald Fleischer gut für die Ohren sein. Lärm sei auch dann nicht schädlich, wenn er sehr laut sei - wie beispielsweise in einer Disco, er schule das Gehör vielmehr. Schädlich hingegen seien plötzliche Knallgeräusche, berichtet Fleischer. Wie jedes andere Organ so müsse auch das Gehör trainiert werden. Mit dieser These stößt er bei anderen Wissenschaftlern jedoch auf heftige Kritik und Unverständnis.  
Fleischer leitet die Arbeitsgruppe Hörforschung am Klinikum der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Seine Erkenntnisse basieren auf Studien in China, bei denen sein Team 2001 zwei Monate durch das Land reiste und die Hörfähigkeit von 1.150 Menschen erfasste. Das Ergebnis: Menschen in völlig stillen Gegenden hörten schlechter als in Ballungsräumen.
...
Ergebnisse sollen im kommenden Jahr veröffentlicht werden
Die wissenschaftliche Ergebnisse sollen erst im kommenden Jahr veröffentlich werden. Am Dienstag präsentierte jedoch ausgerechnet der Hörgerätehersteller-Verband Pro Akustik eine laienverständliche Zusammenfassung der Studie unter dem Titel "Das intelligente Ohr".
...
Menschen in (lauten) Städten hören besser
"In Gebieten, in denen es keinen Industrielärm gibt, ist das akute akustische Trauma weit verbreitet und der Anteil an Hörschäden sehr hoch", fasst Fleischer seine Studie zusammen.

Die Menschen in diesen ländlichen Gegenden zündeten traditionell laute Knallkörper zu bestimmten Festtagen. Dies sei besonders fatal, weil das Gehör dieser Menschen, die in völliger Stille leben, nicht trainiert sei.

Die in Städten lebenden Chinesen hätten besser gehört und seltener Schäden gehabt, berichtet Fleischer weiter. "Zu den am besten hörenden Chinesen gehörten die Piloten von lauten, uralten russischen Flugzeugen."
Kritiker: "Wissenschaftlich nicht abgesichert"
"Dass man durch Anpassung des Ohres Hörschäden verhindern kann, ist wissenschaftlich nicht abgesichert und völlig spekulativ", sagt dagegen Manfred Hülse vom Uniklinikum der Universität Heidelberg in Mannheim auf Anfrage. "Jedes Organ bricht irgendwann einmal zusammen, wenn es ständig überfordert wird."

Der Direktor der Klinik, Karl Hörmann, ergänzt: "Lärm über eine gewisse Dauer und Intensität führt ganz sicher zu einem Hörschaden. Es hängt allerdings vom einzelnen Menschen ab, wann er eintritt."
Gefahren durch dauerhaften Arbeitslärm
Gerald Fleischer stehe völlig im Gegensatz zu dem, was Gehörforscher sonst sagen, betont auch Wolfgang Babisch, Lärmexperte beim Umweltbundesamt in Berlin. Er verweist auf die Gefahr, die von dauerhaftem Arbeitslärm ausgeht:

"Es ist sicher, dass Arbeitslärm, wenn man sich nicht durch Gehörschutz davor schützt, zu bleibenden Gehörschäden führt. Aus diesem Grund gibt es entsprechende Gesetze, die das Tragen von Gehörschutz vorschreiben."

Häufiger Discobesuch über mehrere Jahre hinweg könne bei einem Geräuschpegel von mehr als 100 Dezibel ebenfalls zu Hörschäden führen. "Gewöhnliche Umgebungsgeräusche in der Stadt machen dagegen keine Gehörschäden."
...
Andere Lärmquellen nicht ausreichend beachtet?
"Es drängt sich die Vermutung auf, dass bei der Untersuchung gewisse Störfaktoren wie etwa andere Lärmquellen nicht ausreichend beachtet wurden", kritisiert Babisch. Es könne möglicherweise sein, dass Menschen in chinesischen Dörfern häufiger Knallkörper zündeten als in Städten. Fleischer gibt zu, dass der Brauch in Städten nicht üblich ist.
...
Fleischer: Hörsystem erkennt Gefahr von Dauerlärm
Das Hörsystem erkenne die Gefahr, die vom Dauerlärm ausgehe, und verringere seine Empfindlichkeit entsprechend, erklärt Fleischer dennoch. "Es ist Quatsch zu glauben, das Beste was man für das Gehör tun kann ist, es vor Schall zu schützen", sagt er.

"Es behauptet ja auch niemand, das Beste, was man für den Bewegungsapparat tun kann, ist am Schreibisch zu sitzen." Daher sei ein Discobesuch nicht schädlich, so lange man nicht direkt vor den Boxen stehe. "Die Disco ist ein gutes Training."
Bleibende Schäden durch plötzlichen Knall
Bei einem plötzlichen Knall hingegen könne das Gehör nicht mehr reagieren, es entstünden bleibende Schäden. "Die Gefahr, die vom Knall ausgeht, wird unterschätzt." Nicht nur Feuerwerkskörper, auch der Klang beim Ausbeulen eines Kotflügels oder Hammerschläge seien gefährlich.

Der Gehörschutz habe jahrzehntelang "den falschen Baum angebellt". In den vergangenen Jahren hatte Fleischer noch vor Hörschäden durch Lärm am Fließband oder Musik im Zimmer gewarnt.

(Sandra Trauner und Simone Humml/dpa)
->   Die Gießener Arbeitsgemeinschaft im Internet
Mehr Artikel rund um das Gehör in science.ORF.at:
->   Sinneshärchen im Innenohr erneuern sich
->   Neue Wege in der Tinnitus-Therapie
->   Studie: Orchester-Musiker sollten Gehörschutz tragen
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Leben .  Medizin und Gesundheit 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010