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Weibliche Impotenz: Erfindung der Pharmaindustrie?  
  Potenzmittel wie Viagra oder Vardenafil haben sich nicht nur für Männer als Glücksfall erwiesen, die unter erektiler Dysfunktion leiden. Auch die Umsätze der Pharmaindustrie sind deutlich gestiegen. Nun rückt die "weibliche Impotenz" und ihre medikamentöse Bekämpfung immer mehr in den Blickpunkt der Forschung. Ein Artikel im "British Medical Journal" hält diese jedoch schlicht für eine Erfindung - gemacht von Pharmaunternehmen und willfährigen Wissenschaftlern, die sich erneut hohe Profite erhoffen.  
In den vergangenen sechs Jahren hätten Forscher, die in enger Verbindung zur pharmazeutischen Industrie stehen, auf gesponserten Kongressen und Meetings die neuartige sexuelle Funktionsstörung von Frauen - "die weibliche Impotenz"- definiert, propagiert und entwickelt, schreibt Ray Moynihan im "British Medical Journal" (BMJ).
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Der Artikel "The making of a disease: female sexual dysfunction" ist in der aktuellen Ausgabe des angesehenen Fachblattes (Bd. 326, S. 45-47) erschienen.
->   Zum Artikel im BMJ
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Das große Geschäft mit der Gesundheit
Seit Viagra 1998 auf den Markt kam, wurde das Potenzmittel für den Mann 17 Millionen mal verschrieben. Die Pharmafirma Pfizer verdiente damit laut ihrem Verkaufsbericht 2001 eineinhalb Milliarden Dollar (etwa 1,5 Mrd. Euro). Das Konkurrenzunternehmen Bayer hat nach Schätzungen mit seinem erektionsfördernden Produkt Vardenafil jährlich ungefähr eine Milliarde Dollar verdient.

Um einen ähnlichen Markt für ein Medikament für Frauen aufzubauen, muss zuerst das Problem der weiblichen sexuellen Dysfunktion wissenschaftlich beschrieben und belegt werden - sowie ein glaubwürdiges Diagnoseverfahren gefunden werden, schreibt Moynihan im BMJ.
43 Prozent sexuell dysfunktional?
Einer der Höhepunkte der "Erschaffung" dieser neuen Krankheit war laut Moynihan ein Artikel im "Journal of the American Medical Association" (JAMA). Darin wurde behauptet, dass 43 Prozent der Frauen im Alter zwischen 18 und 59 Jahren an einer weiblichen Form der sexuellen Dysfunktion, also an einer Art weiblicher Impotenz, leiden. Zahlen, die mittlerweile in Medien und Wissenschaft weit verbreitet, aber nicht unumstritten seien.
Zweifelhafte Studie mit verhängnisvollem "Ja"
Der hohe Prozentsatz kam zustande, als Ed Laumann und Kollegen von der University of Chicago Daten eine Studie aus dem Jahre 1992 reanalysierten. Damals wurden 1.500 Frauen befragt, ob sie Erfahrungen mit einem der folgenden Probleme hätten: "Zwei Monate oder länger kein Sex, ein verringerter Wunsch nach Sex, Ängstlichkeit beim sexuellen Akt, Schwierigkeiten erregt zu werden." Antwortmöglichkeiten waren "Ja" oder "Nein".

Wer nur eine Frage mit "Ja" angekreuzt hatte, wurde der Gruppe von Frauen zugeordnet, die an sexuellen Dysfunktionen leiden.
Viele Betroffene, viele Verschreibungen
Die Psychiaterin Sandra Leiblum von der Robert Wood Johnson Medical School bezweifelt laut Moynihan die Richtigkeit der Daten - und somit der Definition der Krankheit. Sie glaubt, dass eine sexuelle Dysfunktion bei Frauen weitaus seltener vorkommt und dass die vom JAMA veröffentlichten Zahlen zu einem übertriebenen Einsatz von Arzneimittel führen.

Gerade auf dem Gebiet der Sexualität sei jedoch eine Änderung des Verhaltens und der Wünsche normal. "Ich glaube, dass es bei vielen Frauen Unzufriedenheit und Desinteresse in sexuellen Bereichen gibt, aber ich glaube nicht, das diese Frauen deswegen krank sind", wird Leiblum zitiert.
Begriff der Dysfunktion stigmatisiert Frauen
Der Direktor des Kinsey Institute at Indiana University John Bancroft geht laut BMJ noch einen Schritt weiter. Er meint, dass der Begriff "Dysfunktion" in diesem Zusammenhang höchst irreführend sei. Die Verminderung oder Hemmung des sexuellen Verlangens sei vielmehr eine natürliche Reaktion von Frauen, die mit Stress, Müdigkeit oder einem bedrohlichen Verhalten ihres Partners konfrontiert werden.

"Wenn man Probleme im sexuellen Bereich als 'Dysfunktion' beschreibt, dann ermutigt man damit die Ärzte Medikamente zu verschreiben, die das Sexualverhalten zu ändern. Dabei sollten sie zur Behebung des Problems einfach mehr auf andere Aspekte im Leben der Frau achten. Außerdem werden Frauen in dem Glauben gelassen, dass sie an einer Fehlfunktion leiden, obwohl sie das nicht tun", so Bancroft.
Was ist krank und was ist gesund?
Während die sexuellen Probleme des Mannes laut Moynihan relativ einfach durch das Erektionsvermögen zu messen sind, sei die weibliche sexuelle Erregung weitaus schwieriger zu quantifizieren. Daher seien auch die Erfolge medikamentöser Therapien schwierig einzuschätzen.

In den letzten Jahren seien jedoch einige neue Messmethoden entwickelt worden, die mit Hilfe von physikalischen und psychosozialen Untersuchungen, der Messung von Hormonprofilen, vaginaler PH-Werte sowie des klitoralen und vaginalen Blutflusses zu eindeutigen Werten für die sexuelle Erregung der Frau gelangen wollen.
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Krankheit: Der statistische Ansatz
In der klinischen Praxis beschreitet man oft einen statistischen Definitionsweg. Als "krank" gilt hier jeder Zustand, der außerhalb eines gewissen Entfernungsbereiches vom Mittelwert liegt. Dieses Maß kann jeden quantifizierbaren Zustand erfassen, also etwa Körpergröße, -gewicht oder Hämoglobingehalt. Nach dieser Definition liegen üblicherweise ca. fünf Prozent der Bevölkerung außerhalb des "Norm"-Bereiches.
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Die Überprüfung der Wirksamkeit von Medikamenten
Mit diesen Daten soll laut der von Moynihan zitierten Urologin Jennifer Berman (University of California) definiert werden, in welcher Altersgruppe welche physiologische Reaktionen von Frauen beim Sex "normal" sind.

Dieses Instrumentarium dient auch zur Messung des Effektes von Medikamenten. So wurde die Wirksamkeit des Wirkstoffes Sildenafil bereits an Frauen getestet, die an Hand dieser neuen "Eckdaten" an "sexuellen Erregungsstörungen" leiden.
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WHO-Definitionen von "gesund" und "krank"
Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert Gesundheit unter Einbeziehung körperlicher, psychischer und sozialer Bedingungen und betont, "dass Gesundheit nicht allein durch die Abwesenheit von Krankheit oder Schwäche" bestimmt werden könne.
->   WHO
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Eine andere Sicht der sexuellen Probleme der Frau
Die Psychiaterin Leonore Tiefer und ihre Kollegen von der University of New York stellen laut BMJ die Sicht der Frau in das Zentrum ihrer Definition von weiblicher sexueller Dysfunktion: "Unzufriedenheit oder Missvergnügen mit jedem emotionalen oder partnerschaftsbezogenen Aspekt der sexuellen Erfahrung". Dafür gebe es vier Gründe: soziokulturelle, politische oder ökonomische Verhältnisse, physiologische und medizinische.

"Sex ist wie Tanzen. Wenn Sie sich einen Knöchel brechen, gehen Sie zum Doktor. Dieser wird aber keine Geschichte des Tanzes brauchen, um sie zu heilen. Er wird ihnen auch nicht erklären, wie sie zu tanzen haben oder wie es 'normal' ist zu tanzen. In der Medizin dreht sich viel um die Definition von Krankheit und Gesundheit - Sex ist aber ganz anders", meint Tiefer.
->   Ed Laumann - University of Chicago
->   Robert Wood Johnson Medical School
->   The Kinsey Institute
->   Leonore Tiefer-New York University, School of Medicine
Mehr dazu in science.ORF.at:
->   Auf der Suche nach "Nicht-Krankheiten"
 
 
 
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01.01.2010