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Inquisitionsarchiv enthält Who is Who der Wissenschaft  
  Die Folterknechte der Inquisition sind im Mittelalter mit den Buchzensoren eine unheilige Allianz eingegangen. Bis 1998 lagen die Protokolle der römischen Inquisition und der für die Buchzensur zuständigen Indexkongregation unter Verschluss, ehe sie offiziell geöffnet wurden. Ein aktuelles Forschungsprojekt erfasst nun sowohl die Biografien der Zensoren als auch die Bücher, die sie überprüften. Die Liste der Autoren liest sich wie das Who is Who aus Wissenschaft und Kultur - die Namen reichen von Aristoteles bis Immanuel Kant, von Cicero bis Heinrich Heine.  
Erforschung seit 1992
Dank einer Spezialgenehmigung hatte Hubert Wolf vom Institut für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte der Universität Münster bereits seit 1992 Zugang zu den Archiven des Vatikans.

Für diese Arbeit erhält er Mitte Februar den mit 1,55 Millionen Euro dotierten Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).
->   Die Leibniz-Preisträger 2003 (DFG)
Erstellung von Datenbanken
Wolf ist Mitglied des von der Glaubenskongregation eingesetzten wissenschaftlichen Beirates, der die Erschließung der Archive begleitet und größere Editionsvorhaben prüft. Die Glaubenskongregation wiederum ist die Nachfolge-Institution der Inquisitions-Behörde.

Im Rahmen eines DFG-Projektes katalogisiert und inventarisiert der Kirchenhistoriker mit seinem Team die Akten und erstellt eine Datenbank, um sie allen Wissenschaftlern frei zugänglich zu machen.

Im Mittelpunkt stehen zwei Vorhaben: Einerseits die Sammlung der Urteile von Indexkongregation und Inquisition, andererseits die biografische Erfassung ihrer Mitarbeiter.
->   Glaubenskongregation (Vatikan-Homepage)
Berühmte Verdächtige: Kant, Knigge ...
Die Zensur von Büchern wurde nach genau festgelegten Regeln verhandelt, Gutachten und Gegengutachten eingeholt. Wolf vermutet, dass doppelt so viele Schriften verhandelt wie später tatsächlich verboten wurden. Immer wieder wurden Werke auf den 1967 abgeschafften Index gesetzt, andere heruntergenommen.

Kants "Kritik der reinen Vernunft", Beecher-Stowes "Onkel Toms Hütte" oder "Über den Umgang mit Menschen" des Freiherrn von Knigge wurden von den Klerikern ebenso unter die Lupe genommen wie die Gedichte Heinrich Heines.
... und Heine auf dem Index
Heine wurde, im Gegensatz zu den anderen Autoren des Sturm und Drang, tatsächlich indiziert.

"Heine publizierte in französisch. Nur dadurch wurde er für die Indexkongregation interessant, denn Deutsch war für sie eine Barbarensprache", erklärt Wolf diesen Umstand. Bei Karl May dagegen wurde nicht einmal ein Gutachten angefordert, das Verfahren vorher eingestellt.
Who is Who
Die Protokolle der Indexkongregation lesen sich wie ein Who is Who von Literatur, Theologie und Wissenschaft. Unter den Werken, die dem prüfenden Blick der Zensoren ausgesetzt waren, befinden sich selbst Klassiker von Autoren wie Erasmus von Rotterdam, Thomas von Aquin, Hippokrates, Paracelsus, Platon, Aristoteles, Euklid oder Cicero.
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Gut erhaltenes Archiv
Das Archiv der Indexkongregation ist nahezu vollständig erhalten. In den 24 so genannten Diarien, den offiziellen Tagebüchern der Kongregation, sind die Sitzungen von Beratern und Kardinälen, Kurzfassungen der Urteile und andere wichtige Notizen, etwa der Eingang von Denunziationen, verzeichnet. In den Beständen der Inquisition, die etwa 4.500 Einheiten auf rund 610 Regalmetern umfassen, nehmen nach Angaben von Wolf Buchzensurfälle nur einen geringen Raum ein. Statt dessen geht es v.a. um Glaubensfragen aller Art, etwa die so genannten "Dubi" über verschiedene Sakramente oder über "sexuelle Vergehen" wie z.B. Übergriffe im Beichtstuhl und Homosexualität.
->   Die Projekt-Website
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Mehrere tausend Urteile
Von Wolf und seinem Forscherteam wird eine Edition der mehreren tausend Urteile von Indexkongregation und Inquisition erarbeitet, die durch Plakatdruck verbreitet und an den Kirchentüren Roms angeschlagen worden waren ("Index librorum prohibitorum").

Ergänzend zu dieser Edition sollen all diejenigen Bücher erfasst werden, die in den Sitzungen von Inquisition und Indexkongregation zwar verhandelt, aber nicht verurteilt wurden bzw. deren Verurteilung nicht publiziert wurde (etwa weil eine Publikation die "Gefahr" einer Werbung für ein Werk darstellen hätte können).

Inzwischen ist das gesamte 19. Jahrhundert der Bestände der Indexkongregation durchgearbeitet und erfasst.
Biografische Erfassung der Zensoren
In der Datenbank werden aber nicht nur die einzelnen Akten beschrieben, sondern auch die Lebensläufe der einzelnen Gutachter so weit wie möglich rekonstruiert. Dieser Teil der Arbeit widmet sich der Prosopografie, d.h. der biografisch-bibliografischen Erfassung aller Mitarbeiter von Indexkongregation und Inquisition.

"Wir wollen wissen, wer die Täter sind und wer sich da ein Urteil über Kant anmaßt", so Wolf.

Dabei gibt es eine Reihe von Schwierigkeiten: Die Gutachter tauchen zum Teil nur unter ihren Ordensnamen auf, ausländische Namen sind von den Protokollanten italisiert worden oder es tauchen immer neue Variationen eines Namens auf.
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Online-Datenbank
Für das 19. Jahrhundert existiert aber mittlerweile eine umfassende Rekonstruktion aller Mitarbeiter der beiden Kongregationen. Die Datenbank ist zur Zeit noch nicht via Internet abrufbar, einige Beispiele sind aber seit Dezember 2002 anzusehen.
->   Beispiel: Carlo Gennaro Edoardo Acton
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Inquisition in Zahlen
Im Jänner 1998 war das Inquisitionsarchiv offiziell vom Vatikan eröffnet worden. Bei einem aus diesem Anlass stattfindenden Kongress legte der italienische Historiker Agostino Borromeo Zahlen zur Inquisition in Spanien vor.

Demnach wurden zwischen 1540 und 1700 fast 44.700 Menschen angeklagt, wovon 1,8 Prozent auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden seien. Weitere 1,7 Prozent seien in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. In Portugal seien zwischen 1540 und 1629 mehr als 13.200 Inquisitionsprozesse geführt worden - 5,7 Prozent der Angeklagten seien zum Tode verurteilt worden.
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Papst bat um Verzeihung
Am 12. März 2000 sprach der Papst Johannes Paul II. ein Fürbitt-Gebet, das als "Geste von welthistorischer Bedeutung", bezeichnet wurde. In einem großen "Mea culpa" erflehte der Papst Vergebung vor Gott und den Menschen für "Fehler und Sünden gegen die Toleranz, gegen die Ökumene, gegen Frieden und Menschenrechte sowie im Verhältnis zum Volk Israel".

Ohne namentliche Nennung wurden die Fürbitten auch in Zusammenhang mit Inquisition, Hexenverbrennungen, Kreuzzügen und dem Schicksal von Wissenschaftlern wie Galileo Galilei gebracht.
->   Mehr über das "Mea Culpa" des Papstes (WDR)
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Erst im 19. Jahrhundert abgeschafft
Allein bei den Hexenprozessen kamen vorsichtigen Schätzungen zufolge zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert etwa 50.000 bis 80.000 Menschen (meist Frauen) ums Leben. Erst 1859 wurde die Inquisition in Italien abgeschafft, im Kirchenstaat gab es sie sogar bis 1870.
->   Deutsche Forschungsgemeinschaft
 
 
 
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01.01.2010