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Gegenwart und Zukunft der "Cultural Studies"  
  "Cultural Studies" sind in den 60er Jahren in Großbritannien entstanden, mittlerweile haben sie auch an deutschsprachigen Universitäten Hochkonjunktur. Der Wiener Sozialwissenschaftler Roman Horak spricht von einer "Wiederentdeckung von Kultur" sowie von den "Kulturwissenschaften als dem Terminus der Stunde" - und vermutet hinter diesem Kultur-Boom einige Missverständnisse. In einem Gastbeitrag für science.ORF.at nimmt Horak die gegenwärtige Situation der Cultural Studies genauer unter die Lupe und versucht auch einen Ausblick auf die Zukunft dieser "disziplinlosen Disziplin".  
Über die Praxis der Cultural Studies
Ein Beitrag von Roman Horak

"These days it seems increasingly difficult to get away from 'culture'. Once associated almost exclusively with the 'arts', the term now pops up in the most unlikely of places." Mit dieser durchaus zutreffenden Beobachtung - manchmal scheint es, als gebe es heute kein Entkommen mehr von "Kultur" - eröffnet Paul du Gay die Einleitung des von ihm gemeinsam mit Stuart Hall, Linda Janes, Hugh Mackay und Keith Negus (1997) verfassten Buches "Doing Cultural Studies. The Story of the Sony Walkman".
Überall ist von "Kultur" die Rede
Allerorten, so hält er fest, sei von "Kultur" die Rede, in die Welten der Wirtschaft und der Politik habe die Rede von ihr Eingang gefunden, und auch die "Academy" zeige vermehrt Interesse an kulturellen Fragestellungen und Themen, was sich nicht zuletzt durch den Prestigegewinn der Cultural Studies an den Universitäten und Colleges bemerkbar mache.
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Roman Horak: Die Praxis der Cultural Studies
Roman Horak - Autor dieses Gastbeitrages - ist Sozialwissenschaftler und lebt in Wien. Er unterrichtet am Institut für Politikwissenschaften der Universität Wien und ist ao. Prof. an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte kreisen um die Cultural Studies.

Seine jüngste Buchpublikation "Die Praxis der Cultural Studies" ist erschienen im Löcker Verlag (2002). ISBN 3-85409-373-X, 22 Euro.
->   Weitere Informationen zum Buch (Löcker Verlag)
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Der "Kultur-Boom" in den deutschsprachigen Ländern
"A brief glance at contemporary higher education curricula reveals its onward march with courses in semiotics appearing in management schools, and seminars on television and popular culture developing in sites stretching from sociology to modern languages and literature."

Du Gays Bemerkungen, gemünzt auf Großbritannien, scheinen mittlerweile ebenso auf die Situation hier zu Lande zuzutreffen, wenigstens was die akademische Hausse des Wortes und wohl auch des Begriffs Kultur angeht.

Ein wesentlicher Unterschied ist allerdings auszumachen: Die Soziologie und mit ihr die Sozialwissenschaften überhaupt scheinen, was den "Kultur"-Diskurs angeht, in den deutschsprachigen Ländern gegenüber den Geisteswissenschaften ins Hintertreffen zu geraten.
"Kulturwissenschaft/en" als Terminus der Stunde
Wohl nicht ganz zufällig stammen viele der neueren Beiträge zu den sich nun heftig Gehör verschaffenden "Kulturwissenschaften" aus der Literaturwissenschaft. "Kulturwissenschaft/en", das scheint überhaupt der Term der Stunde. Selbst die Fakultät für Geisteswissenschaften an der altehrwürdigen Universität Wien hat sich kürzlich in Geistes- und Kulturwissenschaftliche Fakultät umbenannt.
Dichotomie von "Dichtung" versus "Gesellschaftsanalyse"
Nun wäre all das nicht weiter erwähnenswert, schimmerte durch diese spezifische Weise der Wiederentdeckung von "Kultur" nicht jene Dichotomie von "Dichtung" versus "Gesellschaftsanalyse", die Wolf Lepenies als für die deutsche intellektuelle Tradition prägend ausgemacht hat.

Fast hat es denn Anschein, dass, nach den Jahrzehnten des quasi-hegemonialen kritischen Diskurses von und aus Ökonomie und Politik (oder gar: politischer Ökonomie) nun - endlich wieder - der "Geist" die "Gesellschaft" substituiert, wobei "Kultur" als Schlüsselbegriff fungiert.
Umdeutung der Cultural Studies?
Schlimm genug, möchte man meinen, bedenklicher aber dünkt mir die damit einhergehende Umdeutung des Projekts der Cultural Studies. Für Katherine Arens handelt es sich bei ihnen um "'neue Geisteswissenschaften aus Großbritannien", ein Rezensent von Wolfgang Müller-Funkens neuem Buch versteigt sich sogar zu der Behauptung, Kulturwissenschaften wären "das deutsche Wort für die angelsächsischen Cultural Studies" (Standard, 30. März 2002).
Eine "Definition" nach Stuart Hall
Einer, der mit der Zuschreibung "Angelsachse" wohl kaum seine rechte Freude haben würde, Stuart Hall, hat in einem Gespräch pointiert dargelegt, was den Kern der Cultural Studies ausmacht, nämlich das Interesse, die Untersuchung von symbolischen Formen und Bedeutungen mit jener von Macht zu kombinieren.

Damit ist auch schon der Unterschied von jeglicher Form von "Kulturwissenschaft/en" zur Praxis der Cultural Studies auf den Punkt gebracht und es ist die Grundproblematik der doppelsinning disziplinlosen Disziplin (Rolf Lindner) im Kontext der (deutschsprachigen) Debatten zu Kultur, Politik und Gesellschaft angerissen.
->   science.ORF.at: Stuart Hall - Über die Demokratie
Wie geht es weiter mit den Cultural Studies?
Wie wird es mit den Cultural Studies weitergehen? Wird jene international beobachtbare Entwicklung der weitgehenden Entpolitisierung einer jeglichen Kulturforschung im deutschsprachigen Raum durch die Kulturwissenschaft/en betrieben werden?

Ich plädiere jedenfalls für eine sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Cultural Studies. Basierend auf einer ihnen durchaus entgegenkommenden Bestimmung von Kultur hat Heinz Steinert - es spricht bezeichnenderweise von Kulturforschung, Kulturstudien, nicht von Kulturwissenschaft - bereits Mitte der neunziger Jahre einen diesbezüglichen Vorschlag gemacht.

Er schrieb: "'Kultur' ist also ein Bereich, in dem um Bedeutungen und um Hegemonie gekämpft wird - und das nicht nur als Abwehr einer 'herrschenden Kultur' (in Form von Subkulturen der Unterdrückten und Ausgeschlossenen), sondern auch und in erster Linie in Form von Differenzierungs- und Distinktionsbemühungen sowie wirtschaftlichen und politischen Manövern der mächtigen und einflussreichen Klassen der Gesellschaft. Kulturelle Selbstverständlichkeiten und Praktiken werden so als Bearbeitung aktueller Lebensbedingungen und als Bewältigung der zentralen Probleme des Lebens gefasst. 'Kultur' benennt eher das Tun von Leuten als ihr Sein."
Der Wege gibt es viele ...
Und sein Vorschlag lautet so: "Es mag einen Versuch wert sein, Cultural Studies aus der Perspektive der Kritischen Theorie zu erneuern und daraus in geeigneter Konkretisierung umgekehrt auch Forschungsfragen für eine Aktualisierung von Kritischer Theorie zu entwickeln."

Jenseits der Für und Wider seiner Dialektik, scheint mir ein solches Unterfangen, auch heute, oder besser: gerade heute, durchaus bedenkenswert. Es muss ja nicht das einzige bleiben, der Wege gibt es viele. Jeder, der dazu angetan ist, uns aus dem dichten deutschen Tann der "Kultur" zu führen, ist mir im Sinne der Praxis der Cultural Studies durchaus willkommen.
->   Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS)
->   www.culturalstudies.at
->   International Cultural Studies am INST.at
Weiterführende Links zum Thema Cultural Studies:
->   Franz Liebl: Cultural Studies als Studies in Industrial Culture
->   Rezension zu "Cultural Studies. Eine Einführung" (Turia&Kant, 1998)
->   www.popcultures.com: Papers, Theoretiker, Rezensionen, Links
->   Cultural Studies: Eine kurze Einführung/Zusammenfassung
Beiträge aus dem Bereich der Cultural Studies in science.ORF.at:
->   Japan: Populäre Hochkultur oder hochkultureller Pop?
->   Max Diesenberger: Wie natürlich ist Natur?
 
 
 
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01.01.2010