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Letzter Ausweg: Operation für Zwangskranke  
  Beinahe jeder von uns hat seine kleinen Ticks, die praktisch gar nicht auffallen. Bei manchen Menschen aber wachsen sich diese zu massiven Zwängen aus: Die völlig unkontrollierbaren Verhaltensrituale machen ihnen ein normales Leben unmöglich. In solchen extremen Fällen soll den Betroffenen jetzt eine neue Operationsmethode helfen, quälende Symptome wie Kontroll- oder Waschzwang loszuwerden.  
Am Institut für Stereotaxie an der Uniklinik Köln wird nun erstmals versucht, die Krankheit operativ in den Griff zu bekommen. Durch schwache elektrische Impulse soll die überaktive Gehirnregion, die für die Wiederholungshandlungen mitverantwortlich ist, auf normale Werte herunterreguliert werden.
Operation durchs "Schlüsselloch"
Bild: ORF
Dazu wird durch ein kleines Bohrloch im Schädel der Betroffenen eine Elektrode in das Gehirn eingeführt. Sie gibt schwache elektrische Impulse in die betroffene überaktive Gehirnregion ab.

Über ein Kabel, das unter der Haut verlegt wird, ist sie mit einem Schrittmacher verbunden. Er wird über dem Brustmuskel implantiert und gibt den Takt an, in dem die elektrischen Signale ausgesendet werden. Die überschießende Zellaktivität wird gedrosselt.
->   Institut für Stereotaxie und funktionelle Neurochirurgie
Schrittmacher zum Ein- und Ausschalten
Bild: ORF
Waschzwang
Der "Weg" durch das Gehirn, den der Arzt zum Legen der Sonde wählt, wird vorher am Computer genau berechnet und danach mechanisch auf den Kopf des Patienten übertragen. Durch die penible Operationsvorbereitung kann so gut wie sicher gemacht werden, dass keine Gefäße und kein Gewebe im Gehirn zerstört werden.

Die verfeinerte Technologie erlaubt es überdies, nur mehr eine, statt wie bisher zwei Sonden zu verlegen. Der implantierte Schrittmacher kann später von außen ein- und ausgeschaltet werden. Sobald das Gerät ausgeschaltet ist, arbeitet das Gehirn wie zuvor. Somit werden keine nicht mehr rückgängig zu machende Veränderungen vorgenommen.
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Prozess und Symptome
Zwangs- und Angsterkrankungen treten meist miteinander kombiniert auf. Die Patienten wissen, dass das, was sie denken, nicht real ist. Doch sie können sich ihrer Gedanken nicht erwehren. Um die Ängste zu kompensieren, müssen sie die Abwehrhandlungen und Rituale erfüllen. Wenn sie es nicht tun, geht für sie "die Welt unter", sie geraten in bedrohliche Panikattacken mit Herzrasen, kalten Schweißausbrüchen und extrem schlimmen Gefühlserlebnissen.

Ein überschießender bioelektrischer Prozess liefert die Patienten wie bei einem Ohrwurm einem unkontrollierbaren Wiederholungsdrang aus. Die Betroffenen sehen sich sozusagen dazu gezwungen, sich die Hände zu waschen bis sie bluten, sich endlos zu duschen, Bücherregale zu ordnen oder Bilder gerade zu hängen. Stundenlang müssen sie kontrollieren, ob der Herd ausgeschaltet oder die Türe abgeschlossen ist. Viele kommen von der Haustüre überhaupt nicht mehr weg auf die Straße. Arbeitszeiten oder Termine einzuhalten wird da unmöglich. An ein normales Leben ist nicht mehr zu denken.
->   Österreich-Portal zu Zwangskrankheiten
(zwaenge.at)
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Operation als letzter Ausweg
Angst- und Zwangserkrankungen gelten für gewöhnlich als psychische Störungen. Ihre Herkunft ist noch ungeklärt. Doch nach und nach erkennen die Wissenschaftler nun, dass psychische Beeinträchtigungen und organischen Veränderungen im Gehirn sich gegenseitig bedingen und beeinflussen können.

Für die Operation kommen allerdings ausschließlich Patienten in Frage, bei denen mit Medikamenten und Psychotherapie keinerlei Erfolge mehr erzielt werden können.
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Ausgrenzung der Betroffenen
Nach Schätzungen von Experten leiden etwa zwei Prozent der Bevölkerung in den Industriestaaten unter derartigen schweren Störungen. Die Betroffenen werden ausgegrenzt, stigmatisiert, allein gelassen. Manche von ihnen ziehen sich völlig aus der Gesellschaft zurück und werden praktisch zu Pflegefällen.
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Gute Ausgangsbasis für Neustart
Nach dem Eingriff sind die Patienten von ihrem Wiederholungszwang weitgehend erlöst. Allerdings haben sie meist noch einen schweren Weg aus oft jahrelanger Isolation vor sich.

Die Operationsmethode befindet sich derzeit noch im Erprobungsstadium. Doch bereits jetzt hat sich gezeigt, dass damit eine gute Basis für die Betroffenen geschaffen ist, wieder in die Gesellschaft und einen selbstbestimmten Alltag zurückzufinden.
In Zukunft auch andere Anwendungsgebiete
Während Angst- und Zwangskrankheiten bereits heftig beforscht werden, ist über organische Veränderungen bei anderen psychischen Erkrankungen noch recht wenig bekannt.

Professor Volker Sturm, Chef des Instituts für Stereotaxie an der Uniklinik in Köln, rechnet aber mit weiteren großen Fortschritten in der Gehirnforschung und schließt nicht aus, dass in einigen Jahren auch andere schwere psychische Leiden wie etwa Phobien oder das Tourette-Syndrom, mit der Methode der "tiefen Hirnstimulation" gelindert werden könnten.

Rike Fochler, Modern Times Gesundheit
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Mehr dazu in Modern Times Gesundheit, 10. 01. 2003, 22.35 Uhr, ORF 2
->   Modern Times
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->   science.ORF.at: Zwangsstörungen bei Kindern
->   Deutsche Gesellschaft für Zwangserkrankungen
 
 
 
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01.01.2010