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Die Chiffre "Chicago" in Wiener und Berliner Urbanitätsdebatten  
  Eine komplizierte Beziehung analysiert derzeit der Kulturwissenschaftler und Historiker Marcus Gräser am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften IFK in Wien: Das "Deutungsdreieck" Wien - Berlin - Chicago in den verschiedenen Urbanitätsdebatten. In einem Gastbeitrag für science.ORF.at gibt der Wissenschaftler einen Überblick über die Genese und Nutzung der Chiffre "Chicago".  
"Deutungsdreieck" Wien-Berlin-Chicago: Wien gegen Chicago

Ein Originalbeitrag von Marcus Gräser

Als die Wiener FPÖ im Gemeinderatswahlkampf 1996 die Parole "Wien darf nicht Chicago werden" plakatieren ließ, blieb ein Echo nicht aus: Die Stadt Wien konterte mit dem Slogan "Nix Chicago" und suchte mit Öffentlichkeitsarbeit dem hier offensichtlich lancierten Zerrbild einer außer Kontrolle geratenen Kriminalität zu begegnen.

Und in Chicago löste die dreiste Nutzung des Stadtnamens in negativer Konnotation Zorn aus: Bürgermeister Richard M. Daley, stets sorgsam über das Image der Stadt wachend und notorisch empfindlich, veranlasste einen Protest des amerikanischen Botschafters in Wien.
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Vortrag am Wiener IFK: " Die Chiffre 'Chicago'"
Am Montag, 20. Jänner 2003, um 18.00 Uhr spricht Marcus Gräser zum Thema "Imagination und Interesse: Die Chiffre 'Chicago' in Wiener und Berliner Urbanitätsdebatten 1890-1930". Am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Reichsratsstr. 17, 1010 Wien.
->   Weitere Informationen zum Vortrag
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Und Wien gegen Berlin
Aber noch in einer anderen Stadt nahm man Notiz vom Spektakel in Wien. In der "Berliner Zeitung" glossierte Roland Koberg im Oktober 1996: "Wien will nicht Chicago werden. Das tut uns leid für Wien. Chicago ist eine der modernsten, nobelsten und sichersten Städte der Welt."

Zugleich aber bemerkte Koberg, dass in Wien schon längst auch eine andere Devise ausgegeben sei; die Wiener Kulturstadträtin Ursula Pasterk lasse keine Gelegenheit aus, unter Hinweis auf die massiven finanziellen Kürzungen im Berliner Kulturetat beifallheischend "Berliner Verhältnisse" für Wien auszuschließen: "Wien darf nicht Berlin werden."

Kobergs Glosse verstand sich bei allem Spott über die Wiener "Städtevergleiche" dennoch als Kritik an den Kürzungen im Berliner Kulturhaushalt: "100 Millionen Mark einzusparen ¿ klingt tatsächlich nach Kapitulation. Wo will die deutsche Hauptstadt hin? Man muss ja nicht gleich das Chicago der zwanziger Jahre heraufbeschwören, wie es Brecht im "aufhaltsamen Aufstieg des Arturo Ui" getan hat."
Alte Images und neue Konkurrenzen
Nein, Koberg hatte das Brechtsche "Chicago der zwanziger Jahre" (und damit das reale Berlin der dreißiger Jahre) nicht heraufbeschworen - aber es doch immerhin, sozusagen vorsorglich, benannt.

Das schnelle Spiel der hin- und hergewendeten Vergleiche im "Deutungsdreieck" Wien-Berlin-Chicago, das sich hier im Herbst 1996 ereignete, aber war kaum denkbar ohne längst bereitliegende, im "Städtevergleich" hergestellte Images, ohne abrufbare Etiketten, ohne eingefahrene Muster des "ist-wie" oder "darf-nicht-sein-wie".

Genese und Nutzung solcher Deutungsmuster sind Gegenstand eines Forschungsprojektes, das zur Zeit am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften Wien durchgeführt wird.
Berlin ist Kopf, Wien ist Herz?
Die älteste "Schicht", auf die rekurriert werden konnte, war natürlich die Rivalität zwischen Wien und Berlin, die seit dem 19. Jahrhundert eine Fülle von Deutungen und Texten hervorgerufen hatte, in der die kulturelle und politische Polarisierung der beiden so unterschiedlichen Städte - die alte Kaiserstadt Wien und der "Parvenu" Berlin - verhandelt wurde.

Wien und Berlin erschienen dabei meist perfekt komplementär und wurden in unzähligen Gegensatzpaaren gewissermaßen als Ideal-Metropole "zusammengesetzt"; das Diktum von Justinus Kerner - Berlin sei Kopf und Wien sei Herz - gab den Rhythmus vor, der dann beliebig variiert werden konnte: Berlin will werden, Wien will bleiben etc.
Rückgriff auf einen amerikanischen "Maßstab"
Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert kam freilich eine eigentümliche Dynamik in das Deutungsgeschäft der Feuilletonisten und städtischen Intellektuellen:

Die in Wien und Berlin diskursiv hergestellten Bilder der eigenen und der anderen Metropole griffen immer mehr auf einen amerikanischen "Maßstab" zurück, ohne den ein Vermessen der eigenen Modernität - oder des Abstandes zu einer universalen Modernität - kaum mehr möglich schien.

Als urbanes Paradigma einer solchen Modernität aber erschien nicht das schon fast "alte" und stets europäisch geneigte New York, sondern Chicago.
Europa und Amerika
Warum Chicago? Weil diese Stadt für das umstandslos Neue stand. Aus obskuren Anfängen war Chicago mit atemberaubender Schnelligkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur zweitgrößten Stadt der USA herangewachsen.

Die Sichtbarkeit einer industriekapitalistischen Rationalität, etwa in der seriellen Produktionsweise der berühmten Schlachthöfe, und die architektonische Moderne der frühen Skyscraper im zentralen Geschäftsdistrikt blieben kaum einem der vielen europäischen Besucher seit der Weltausstellung von 1893 verborgen und signalisierten das Maß an Modernität.
Der Beginn des Spiels der Städte-Analogien
Mit dem transatlantischen Spiel der Städte-Analogien aber begann kein Wiener und kein Berliner, sondern ein Amerikaner: Mark Twain, der 1891 zu Besuch in Berlin gewesen war, hatte in einem anschließend veröffentlichten Text Berlin emphatisch zum "European Chicago" ausgerufen: "No tradition and no history. It is a new city".

Das verhallte nicht ungehört. Walter Rathenau, politischer und unternehmerischer Exponent einer kraftvollen und unbedingt modernen Stadtentwicklung, griff den Ball auf und feierte den Weg von "Spreeathen" nach "Spreechicago" als Fortschritt. Den Ruf als "amerikanische" Metropole wurde Berlin in der Folge nicht mehr los.
Wien und seine "amerikanischen" Gegenpole Berlin und Chicago
Die etablierte Deutungs-Rivalität zwischen Berlin und Wien konnte davon nicht unberührt bleiben: Fast zwangsläufig sah sich Wien - in den Texten seiner Interpreten - fortan in der Konkurrenz mit einem Berlin, das in der Koppelung mit Chicago den Parvenu-Status in ein Zeichen extremer Modernität verwandelt hatte.

Für einige aus dem Spektrum der Wiener Moderne - etwa für Adolf Loos oder Felix Salten - bot sich mit der Chiffre Chicago die Möglichkeit einer Kritik der traditionellen Identität der Stadt.

Für das Gros der Wien-Interpreten aber bildeten Chicago und das "amerikanische Berlin" unverrückbar den Gegenpol zum Entwurf der städtischen Zukunft, der um Geschichte, Tradition und Hochkultur gelagert blieb - und Chicago als Chiffre für die Entwicklung der eigenen Stadt schied damit aus: Von Camillo Sitte über Franz Blei bis hin zu Ernst Krenek zieht sich eine kulturkritische bis kulturpessimistische Spur der Chicago-Ablehnung und -Verachtung.
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Informationen zum Autoren Marcus Gräser
Der Historiker arbeitet am Zentrum für Nordamerika-Forschung der Universität Frankfurt am Main an einer Habilitationsschrift zur vergleichenden Geschichte von Bürgerlicher Sozialreform und welfare state building in Deutschland und in den USA 1880-1940. 2002/2003 IFK_Research Fellow mit einem Projekt zu "Chiffre 'Chicago': Selbstbild und Fremdbild in Wien und Berlin 1890-1930".

Veröffentlichungen u.a.: Der blockierte Wohlfahrtsstaat. Unterschichtjugend und Jugendfürsorge in der Weimarer Republik (Göttingen 1995); Demokratie versus Bürokratie. Bildprogramm und Politik der settlement-Bewegung in Chicago am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Marcus Gräser et al. (Hg.): Staat, Nation, Demokratie. Traditionen und Perspektiven moderner Gesellschaften. Festschrift für Hans-Jürgen Puhle (Göttingen 2001).
->   Informationen zum IFK-Forschungsprojekt von Marcus Gräser
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01.01.2010