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Euthanasie-Aktion T4: Auswertung der Krankenakten  
  Wissenschaftler der Universität Heidelberg haben erste Ergebnisse zu den wiederentdeckten Krankenakten von Patienten veröffentlicht, die der nationalsozialistischen "Euthanasie-Aktion T 4" zum Opfer gefallen sind. Sie geben vorläufigen Aufschluss über ihre Krankheitsdiagnosen, die Dauer des Klinikaufenthaltes sowie ihre Pflegebedürftigkeit und Arbeitsfähigkeit.  
Die Ergebnisse der Heidelberger Wissenschaftler wurden in der Fachzeitschrift "Der Nervenarzt" veröffentlicht. "Mit unserer Forschungsarbeit möchten wir dazu beitragen, dass die anonymen Opfer der ersten zentral organisierten Vernichtungsaktion im Nationalsozialismus als Individuen gewürdigt und ihre Schicksale dokumentiert werden", erklärt dazu Christoph Mundt, Ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg.
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"Die Opfer der nationalsozialistischen "Euthanasie-Aktion T4'"
Der Artikel "Die Opfer der nationalsozialistischen 'Euthanasie-Aktion T4', Erste Ergebnisse eines Projektes zur Erschließung von Krankenakten getöteter Patienten im Bundesarchiv Berlin" von Gerrit Hohendorf, Maike Rotzoll, Paul Richter, Wolfgang Eckart und Christoph Mundt ist erschienen in "Der Nervenarzt", Bd. 73, Nr. 11 (2002), Seiten 1065 - 1074 (DOI 10.1007/s00115-002-1420-2).
->   Abstract des Originalartikels
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30.000 Krankenakten im Stasi-Zentralarchiv entdeckt
Rund 30.000 Krankenakten der "Euthanasie-Aktion T4" wurden Anfang der neunziger Jahre im ehemaligen Zentralarchiv des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR entdeckt; zuvor hatten sie als verschollen gegolten. Die Akten wurden vom Berliner Bundesarchiv übernommen und werden dort ausgewertet.
Ermordung von mehr als 200.000 Menschen
Der Deckname "T4" geht auf den Sitz der Organisationszentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4 zurück, in der von 1939 bis 1945 mehr als 300 Beamte und Angestellte die Ermordung von über 200.000 psychisch kranken und geistig behinderten Menschen organisierten.

Im Oktober 1939 wurde ihre Tötung von oberster Stelle des NS-Regimes angeordnet, deklariert als "Gnadentod für unheilbar Kranke". Etwa 70.000 Anstaltspatienten wurden in sechs Tötungsanstalten verlegt, durch Gas oder Injektionen ermordet und anschließend eingeäschert. Ihre Angehörigen erhielten Schreiben mit gefälschten Angaben zu Todesursachen und Sterbeorten.
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Offizieller Stopp 1941 - inoffiziell ging das Morden weiter
Dennoch wuchs das Misstrauen in der Bevölkerung; die Aktion konnte nicht länger geheim gehalten werden. Insbesondere der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, prangerte die Tötungsaktionen öffentlich an. Im August 1941 wurde die T-4-Aktion deshalb zunächst offiziell gestoppt. Dennoch gingen die Tötungen mit Medikamenten und Hungerkost regional unterschiedlich in einzelnen Anstalten bis 1945 weiter - unter Verantwortung der Anstaltsdirektoren und Ärzte.
->   Mehr Informationen zum Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten
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Exemplarische Einzelstudien zeichnen Lebensläufe nach
Um ein Gesamtbild der "Aktion T4" zu erstellen, sollen in dem Heidelberger Forschungsprojekt 3.000 der 30.000 Krankenakten detailliert ausgewertet werden.

"Wir möchten unter anderem wissen, aus welchem sozialen Umfeld die Opfer stammten", sagt Maike Rotzoll von der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg, die zusammen mit Gerrit Hohendorf und Petra Fuchs für das Forschungsprojekt verantwortlich ist.
Für eine Wahrnehmung der Opfer als Individuen
Weitere Fragen sind: Welche Kontakte hatten die Patienten zu ihren Familien? Wie wurden sie medizinisch behandelt? Das Projekt möchte dazu beitragen, dass die bisher in der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend vergessenen Opfer der nationalsozialistischen "Euthanasie" als Individuen gewürdigt werden können.

Darüber hinaus sollen die Dynamik und Organisationsstruktur dieser ersten Massenvernichtungsaktion im Nationalsozialismus analysiert werden, die gleichzeitig als "Modell" für den Holocaust verstanden werden kann.

Dabei geht es nicht nur darum, statistische Auswertungen zu erstellen, sondern in Einzelstudien exemplarisch den Lebenslauf einiger Verstorbener nachzuzeichnen.
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Künstlerischer Patienten-Nachlass in der Sammlung Prinzhorn
Besonders eindruckvoll dürfte dies für einzelne Patienten gelingen, deren künstlerischer Nachlass in der Sammlung Prinzhorn enthalten ist. Sie enthält Werke und Aufzeichnungen von psychiatrischen Patienten und wurde in den Jahren 1919 bis 1921 von dem Kunsthistoriker und Assistenzarzt der Heidelberger Psychiatrischen Klinik Hans Prinzhorn (1886 -1933) angelegt.
->   Information zur Sammlung Prinzhorn
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Schizophrenie, "Schwachsinn", Epilepsie
Erste Forschungsergebnisse zu den Berliner Krankenakten vermitteln einen Eindruck vom Spektrum der Patienten, die der Euthanasie zum Opfer fielen. In einer Pilotstudie wurden 185 Akten auf 50 verschiedene Charakteristika untersucht.

Die meisten Patienten waren mehr als zwei Jahre in Anstaltsbehandlung und trugen die Diagnosen Schizophrenie, "Schwachsinn" oder Epilepsie; etwa ein Drittel wurde in den Akten als pflegeaufwendig und nicht arbeitsfähig bewertet.
"Nicht produktiv - frei zur Vernichtung"
Knapp die Hälfte der Patienten verrichtete so genannte mechanische Arbeiten, z. B. Rosshaarzupfen. Sie galten im Sinne der Leistungsanforderungen der NS-Volksgemeinschaft nicht als produktiv und wurden so zur Vernichtung freigegeben.
Die Rolle ökonomischer Motive
In dem Forschungsprojekt soll auch geklärt werden, welche Rolle ökonomische Motive und rassenhygienische Forderungen bei der ersten systematischen Massenvernichtungsaktion im Nationalsozialismus gespielt haben.

Überragende Bedeutung hat der Berliner Krankenaktenbestand jedoch deshalb, weil er einzigartige Zeugnisse des Lebensweges und der Leidensgeschichte von Menschen enthält, die vor kaum mehr als 60 Jahren für "lebensunwert" gehalten wurden. An sie zu erinnern, ist wesentliches Ziel des Projekts.
->   Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg
->   Institut für Geschichte der Medizin der Universität Heidelberg
Mehr zum Thema Euthanasie im science.ORF.at-Archiv:
->   Otto Urban: Eugenik, Rassenhygiene und Euthanasie
->   Spiegelgrund: Von der Zwangssterilisierung zur Ermordung
->   Entdecker der "Hartheimer Statistik" als Aufdecker von NS-Morden geehrt
 
 
 
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01.01.2010