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Plädoyer für die Wissenschaftlichkeit von Bildern  
  Formulierungen und Berechnungen in Fachartikeln werden von der wissenschaftlichen Gemeinde mit Argusaugen kontrolliert und beobachtet. Stiefmütterlich behandelt wurden bis dato hingegen Abbildungen und Illustrationen. Welche Fallstricke hinter den wissenschaftlichen Darstellungen lauern, zeigt nun ein amerikanischer Chemiker.  
Julio M. Ottino von der Northwestern University in Illinois zeigt in "Nature", dass so manche Abbildung elementaren Regeln der Wissenschaft widerspricht oder Inhalte suggeriert, die nicht haltbar sind. Er fordert daher, dass auch Illustrationen in Fachmagazinen gewissen Regeln unterworfen sein sollten.
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"Is a picture worth 1000 words?"
Der Artikel "Is a picture worth 1000 words?" von J.M. Ottino ist in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins "Nature" (Band 421, Seiten 474-476/2003) erschienen.
->   Zum Artikel (kostenpflichtig)
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Galileos Mond - der Klassiker
Bild: Nature/BIBLIOTHECA NAZIONALE CENTRALE, FLORENZ
Galileis Skizzen zu den Mondphasen.
Die bildliche Darstellung von Forschungsergebnissen ist so alt wie die Wissenschaft selbst. Eines der berühmtesten Beispiele sind die Illustrationen des Mondes, gezeichnet vom Begründer der modernen Physik: Galileo Galilei.

Julio Ottino argumentiert in seinem Aufsatz, dass Illustrationen ein unverzichtbarer Bestandteil des Verstehen seien - und darüber hinaus auch ein Teil des Gedankens sein können. Ein Standpunkt, den etwa bereits Leonardo da Vinci, Galileo Galilei und der Mathematiker G.F.B. Riemann vertraten.

 
Bild: Nature/SHEILA TERRY

Die berühmte Skizze von Leonardo zum Modell einer Flugmaschine
Beispielhafte Kritik: Titelblatt von "Science"
Bild: Nature/Science
Ein Beispiel für eine kritikwürdige Darstellung ortet Julio Ottino etwa beim Fachmagazin "Science". Auf dem Titelblatt der Ausgabe vom 9. November 2001 prangte ein Bild von Nanoröhren, das auf den ersten Blick allen ästhetischen und inhaltlichen Ansprüchen genügt (siehe Abbildung rechts).

Ottinos Detailanalyse fördert allerdings Ungereimtheiten zu Tage: Der amerikanische Chemiker betont zunächst, dass der Betrachter unbewusst von der Uniformität der übermittelten Information ausgeht. Das heißt konkret: Wenn etwas realistisch dargestellt wird, dann sollte das auch für den Rest des Bildes gelten.

Im Fall des "Science"-Titelblattes bedeutet das: In den abgebildeten Nanoröhren sind etwa die einzelnen Kohlenstoffatome abgebildet, die Goldatome der Halterungen allerdings nicht. Ottinos Forderung: Solche Differenzen sollten im Abbildungstext erwähnt werden.
Regeln für Abbildungen
Ottino schlägt daher einige Regeln vor: Zunächst sollten - trivialer Weise - Illustrationen nicht dem gängigen physikalischen Wissen widersprechen. Zum anderen sollten auch Gesetzmäßigkeiten der Makrowelt nicht in jene der Atome und Quanten extrapoliert werden. In ästhetischer Hinsicht fordert Ottino wiederum, dass Abbildungen nicht komplizierter sein sollten, als unbedingt notwendig (und wird auch hier wiederum beim Fachmagazin "Science" fündig).
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Die Grenzen der Regeln - Beipiel Bohrsches Atommodell
Ottinos Regeln stoßen natürlich auf ihre Grenzen: Beispielsweise sieht die Darstellung des Wasserstoffs aus Sicht des Bohrschen Atommodells nach wie vor aus, als handle es sich dabei um ein Mini-Planetensystem. Diese Darstellung kann natürlich nicht als realistisch bezeichnet werden - aber genau in diesem Manko liegt der didaktische Wert der historischen Erwähnung.
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Kritik eines preisgekrönten Bildes
Ein interessanteres Beispiel als die Kritik der Abbildungen in einem Konkurrenzmagazin von "Nature" ist jenes Bild, das im Jahr 2002 den "Vision of Science Awards" in der Kategorie "Science Concepts" gewann.

 
Bild: Nature/WWW.CONEYLJAY.COM

Das Bild stellt rote Blutkörperchen und eine Nanomaschine dar, ausgerüstet mit glasähnlichen Mikroklauen und einer Injektionsnadel.
Ist diese Abbildung realistisch?
Die Frage "Ist diese Abbildung realistisch?" kann nach Ottinos Ansicht durch "ein bisschen physikalisches Denken" leicht beantwortet werden: Das dargestellte Röhrensystem der Nanomaschine befindet sich in einem Größenbereich von etwa 200 Nanometern. Lichtmikroskope können keine so hohe Auflösung bieten, Elektronenmikroskope wiederum keine Farben darstellen. Wäre dieses Bild also 'realistisch', dann hätte es zumindest eine Manipulation erfahren.
Die Mikrowelt sieht ganz anders aus
Eine andere Frage betrifft die dargestellte Mikromaschine selbst: Die von der Abbildung ausgehende Suggestion besagt, dass die Maschine ihre Aktion auf eine präzise und zielgerichtete Art und Weise vollzieht. Dies ist aber bestenfalls eine Metapher aus unserer makroskopischen Lebenswelt: Denn in diesen Größenordnungen ist die Welt von ganz anderen Kräften und chaotischen Bewegungsformen dominiert.
Probleme werden negiert
Dies ziehe, so Ottino, wiederum einen Rattenschwanz von Forderungen nach sich, denen die Nanomaschine genügen müsse. Etwa die Form des Antriebes unter den zähen ("viskosen") Bedingungen der Mikrowelt - oder die Überwindung elektrostatischer Abstoßungen zwischen Zelle und Mikroklauen. Probleme, die von der rein nach ästhetischen Kriterien konzipierten Darstellung völlig negiert würden, so Ottino.
Verdeckte Suggestionen
Im Rahmen dieser Analyse verfolgt Ottino wohl nicht die pedantische Suche nach Fehlern, sondern möchte die Aufmerksamkeit der Leserschaft darauf lenken, dass Abbildungen Inhalte vermitteln, die dem Betrachter oft nicht bewusst sind - selbst dann, wenn sie gegen basale Regeln der Wissenschaftlichkeit verstoßen.
Kritik an der Ikonografie in der Wissenschaft
Mit seinem Standpunkt befindet sich der amerikanische Chemiker in durchaus prominenter Gesellschaft: Der im vergangenen Jahr verstorbene Geologe und Evolutionstheoretiker Stephen Jay Gould hatte etwa zeitlebens kritisiert, dass die populären grafischen Darstellungen der Evolution (Gould sprach von "Ikonografien") das Prinzip der Stufenleiter verinnerlicht hätten.

Ein Prinzip, das zielorientierte Höherentwicklung suggeriere, aber keineswegs aus den empirischen Daten gefolgert werden könne.

Robert Czepel, science.ORF.at
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01.01.2010