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Bombenkriegstrauma im Zeichen der Irak-Krise  
  Terror und Feldzüge der Nationalsozialisten haben Millionen Menschen das Leben gekostet. Um den Zweiten Weltkrieg schneller zu beenden, bombardierten die Alliierten massiv deutsche Städte - mit dem Preis hoher Opferzahlen von Zivilisten. Seit einer neuen Publikation im November des Vorjahres wird in Deutschland unter Historikern und im Feuilleton über dieses Bombenkriegstrauma debattiert: im Angesicht des drohenden Irak-Kriegs mit einer zusätzlichen Dimension.  
Reaktivierung "deutscher Belastung"?
"Mit der Kriegsgefahr im Irak wird die spezifisch deutsche Belastung mit der Kriegserfahrung reaktiviert", sagt der Historiker Hans Mommsen. "Der impulsive Platz der Deutschen ist nicht in dem Bomber, der das Recht herbeibombt", meint der Berliner Historiker Jörg Friedrich.

Mit seinem Buch "Der Brand: Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945" hatte er die emotional geführte Diskussion über das lange verschwiegene Trauma ausgelöst.
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Heftige Diskussionen rund um einen Bestseller
Mit der detaillierten Beschreibung der alliierten Bombardements deutscher Städte - so kamen zum Beispiel beim Angriff auf Würzburg im März 1945 rund 5.000 Einwohner ums Leben - hat Friedrich einen Nerv getroffen. Knapp drei Monate nach dem Erscheinen wird sein Buch in den Feuilletons noch immer kontrovers diskutiert.

In den Bestsellerlisten hält sich "Der Brand - Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945" unter den Spitzentiteln, die Auflage reicht nach Angaben des Propyläen Verlags an die 200.000 heran.
->   Propyläen Verlag
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Historische Parallelen und Unterschiede
Friedrich sieht Parallelen, aber auch deutliche Unterschiede zwischen dem Zweiten Weltkrieg und einem Waffengang im Irak, der zunächst vorrangig aus der Luft geführt werden dürfte: "Die Kriegsziele kleiden sich in das Gewand des Zweiten Weltkrieges: Befreiung, Entwaffnung und Demokratisierung. Saddam ist der Nachfolger Hitlers, Bush ist der Nachfolger Churchills."
Anders als im Zweiten Weltkrieg: Intelligente Waffen
Allerdings, betont der Berliner Historiker: "Die Mittel sind nicht miteinander zu vergleichen." Inzwischen habe die Luftwaffe "intelligente Waffen", die zielgenau treffen - nicht zuletzt als Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Angriff wie etwa auf Würzburg im Zweiten Weltkrieg befohlen werden könnte. Die UNO oder die NATO müsste sich am nächsten Tag selbst auflösen, der US-Präsident müsste zurücktreten."
Keine neuen Daten, aber Überblick
Zwischen 350.000 und 650.000 Menschen - wissenschaftlich fundierte Zahlen gibt es nicht - wurden bei den Bombardements vor allem Großbritanniens getötet. "Deutschland wurde (...) verwüstet wie noch keine Zivilisation zuvor", heißt es in "Der Brand".

Mommsen urteilt: "Das Buch selber ist nicht grundlegend neu, aber es gibt einen sehr eindrucksvollen Überblick über das Ausmaß des alliierten Bombenkrieges."
Kritik in Großbritannien und Deutschland
Besonders in Großbritannien ist Friedrich scharf kritisiert worden, weil er am Mythos des Kriegspremiers Winston Churchill rüttle. Auch Kritiker in Deutschland wie der Publizist Ralph Giordano warfen dem Berliner Historiker vor, Ursache und Wirkung zu verwechseln: "Primärverantwortlich für jeden Zivil- und Militärtoten des Zweiten Weltkrieges sind diejenigen, die ihn geplant und ausgelöst hatten: Hitler und seine Anhänger! Also auch für die halbe Million deutscher Lufttoter", schrieb Giordano Mitte Jänner in der "Jüdischen Allgemeinen".

Friedrich entgegnet scharf: "Es kann doch nicht sein, dass Hitler den Krieg erklärt hat und dann jeder Säugling in Deutschland für vogelfrei erklärt wird." Die Alliierten hätten "kein Recht zur Barbarei" gehabt: "Giordano verwechselt die Auslösung des Krieges und die Art und Weise, wie er geführt wurde."
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Umschreibung der Geschichte?
Das Buch war im November in der "Bild"-Zeitung in Auszügen veröffentlicht worden. Medien und Historiker spitzten es in Großbritannien auf die Frage zu, ob der damalige Premierminister Churchill mit den massiven Bombenangriffen Kriegsverbrechen begangen hat. Der allgemeine Tenor lautet: "Nein!" Die Angriffe seien nicht mit den "unaussprechlichen Gräueltaten der Nazis" aufzurechnen.

Der britische Historiker Correlli Barnett kommentierte das Buch als "gefährliche Umschreibung der Geschichte". Ziel sei es, ein "moralisches Gleichgewicht zwischen den unaussprechbaren Übeltaten der Nazis und Churchills Unterstützung für Flächenbombardierungen" herzustellen.

Autor Friedrich will der Kritik als Wissenschaftler begegnen: "Ich bin Historiker, und eine Bewertung ist nicht meine Aufgabe." Er habe ausschließlich vorsätzliche Zivilmassaker geschildert, an denen kein Zweifel bestehe. "Es kann keine Aufrechnung der barbarischerweise (von Nazis) verursachten Leichenberge geben." Aber es habe auch auf deutscher Seite unschuldige Opfer gegeben, so Friedrich.
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Brechen der Durchhaltemoral
Das Ziel des Bombenkrieges bestand nach Friedrichs Deutung vor allem auch darin, die Durchhaltemoral der Deutschen zu brechen ("moral bombing") und den Krieg schneller zu beenden - das aber habe sich als "Illusion" erwiesen. Schließlich hätten die Bombardements das "größte Schlachtfeld" am Ende des Zweiten Weltkrieges verursacht - mit Brandbomben, die "Massenvernichtungswaffen" gewesen seien.
"Unendliche Kollateralschäden"
"Aus diesen Vorgängen sollte man eigentlich lernen, dass diese Form der Kriegführung mit unendlichen Kollateralschäden (nicht gewollten Zerstörungen ziviler Objekte und zivilen Todesopfern) oder bewussten Schäden gegen die Zivilbevölkerung gerichtet ist und eben eigentlich zu den international unerlaubten Waffen gehören sollte", sagt Mommsen.

Mit Blick auf einen möglichen Irak-Krieg kritisiert er: "Es gibt in Amerika eine sehr starke, ich glaube naive Hochachtung des Einsatzes der Luftwaffe. Das halte ich für ein Problem."

Andreas Hoenig, dpa
science.ORF.at
->   Rezensionen zum Buch (perlentaucher.de)
->   Rezension (Fachjournal "Sehepunkte")
->   Mehr über die Luftangriffe (Deutsches Historisches Museum)
 
 
 
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01.01.2010