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Neue Körper-Vorstellung durch neue Techniken  
  Neue Techniken in der Medizin führen auch zu neuen Vorstellungen dessen, was "Körper" sind. Die Soziologin und Hertha Firnberg-Preisträgerin Christina Lammer zeigt in einem Gastbeitrag für science.ORF.at auf, wie speziell bildgebende Verfahren und so genannte "nicht-invasive Eingriffe" nicht nur Körperbilder verändern, sondern auch die Beziehung von Arzt und Patienten.  
Der transparente Leib
Foto: Christina Lammer
Von Christina Lammer

Im medizinischen Kontext von Diagnostik und Therapie stellt sich gegenwärtig verstärkt die Frage nach der Integrität von Körperlichkeit. Durch digitale Verfahren der Bildgebung, die es dem ärztlichen Blick ermöglichen, in Echtzeit in den Leib des Patienten oder der Patientin hineinzuschauen, bilden sich neue Vorstellungen vom Körperinneren heraus.

Bewegte Bilder von Organen und Strukturen unter der Haut sind während diagnostischer und therapeutischer Interventionen oft den Behandelten gleichermaßen zugänglich wie den Behandelnden. Dadurch verändern sich nicht nur das eigene Körpergefühl, das Gespür für sich selbst und das individuelle Wissen über Vorgänge im Inneren, sondern zudem die sozialen Prozesse, die Interaktionen und der Kontakt zwischen ÄrztInnen und PatientInnen.
Diagnostik und Therapie gehen ineinander über
In der ethnografischen Beobachtungsstudie "Der unSichtbare Körper", die ich derzeit im Rahmen einer Hertha Firnberg-Nachwuchsstelle (2000) in der Abteilung für interventionelle Radiologie am Wiener Allgemeinen Krankenhaus (AKH) durchführe, untersuche ich, wie als minimal-invasiv geltende Eingriffe von PatientInnen wahrgenommen und erlebt werden.

Die Grenzen zwischen Diagnostik und Therapie gehen in diesem jungen radiologischen Fachgebiet, in dem hauptsächlich die Blutgefäße untersucht und behandelt werden, immer mehr ineinander über.
Eigene Operation live mitverfolgen
Interventionen finden in Operationsräumen statt, die durchaus mit chirurgischen vergleichbar sind. Allerdings sind die Behandelten während ihrer Operationen zumeist nicht unter Vollnarkose, sondern bei vollem Bewusstsein.

Wenn die Lage am Operationstisch es ihnen erlaubt, können die PatientInnen sogar auf einem der Bildschirme mitschauen - wenngleich für NichtexpertInnen auf den bewegten Durchleuchtungsbildern nicht viel zu sehen ist.
Der Leib wird durchsichtig
Foto: Christina Lammer
Gearbeitet wird direkt am Körper der Patientin oder des Patienten. Über Katheter werden meterlange Führungsdrähte, Ballons oder feine Drahtprothesen in die Blutgefäße eingeführt, um Problemstellen wie Verengungen, Ablagerungen oder andere krankhafte Veränderungen zu behandeln.

Kontrastmittel, das vorher injiziert wurde, macht das Blut und damit die Arterien und Venen in Echtzeit auf Monitoren sichtbar. Der Leib wird durch die Röntgendurchleuchtung (Videocinematografie) im wahrsten Sinne des Wortes durchsichtig.
Tatsächlich "minimal-invasive Eingriffe"?
Videobilder werden mittels Bildwandler übereinander gelegt, um die anatomischen Strukturen in Bewegung und das Fließen des mit Kontrastmittel angereicherten Bluts detailliert zu beleuchten und so die Navigation von Material im Körper zu ermöglichen. Als minimal-invasiv definierte Eingriffe sind, aus der Sicht des medizinischen Personals, für PatientInnen weniger belastend als konventionell chirurgische.

Wie sehen das jedoch jene Personen, die bereits mit solchen Methoden operiert worden sind?
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Untersuchungs-Methode
Während meiner Feldforschung habe ich bei zahlreichen Interventionen zugeschaut. Ich war beim Informationsgespräch dabei, das 24 Stunden vor dem Eingriff zwischen PatientInnen und RadiologInnen stattfindet, konnte das konkrete diagnostische und therapeutische Vorgehen im OP beobachten und habe die Behandelten ein bis zwei Tage später, noch im Krankenhaus, besucht. Üblicherweise ist nur ein kurzer Spitalsaufenthalt danach nötig.
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Waagrechte Schnitte der Chirurgie vs. ...
Foto: Christina Lammer
Unterschiedliche Konzepte von Körperlichkeit sind während dieser speziell hochtechnologischen Behandlungsweisen im Spiel, ein chirurgisches und ein radiologisches. Bei beiden Konzepten werden das Sichtbare und das Unsichtbare unterschiedlich verhandelt. Die Chirurgie arbeitet mit sichtbaren waagrechten Schnitten, die von PatientInnen als invasiv wahrgenommen werden.
... "unsichtbare" Operation der Radiologie
Während in der Radiologie unsichtbar operiert wird und auf der Haut kaum Narben zurückbleiben. Die Interventionen erfolgen am Monitor, wenngleich Hände Material in die körperlichen Tiefen schieben. An sich ein durchaus invasives Vorgehen.

Für die behandelten Personen vor Ort ist das während der Operation und danach allerdings nicht nachvollziehbar. Sie sehen weder zum Operationsfeld noch wissen sie, was konkret mit und in ihnen passiert. Ihr vermeintliches Inneres nehmen sie auf Bildschirmen wahr.
Keine Narben, senkrechte Operation - nicht invasiv?
Das Invasive wird im Kontext der Klinik vorrangig anhand eines sichtbaren Oberflächenkörpers definiert. Hinterlassen Operationen Spuren auf der Haut bzw. sind große Schnitte nötig, die sich später als Wunden und Narben auf der Körperoberfläche abzeichnen, dann gilt ein Eingriff als invasiv.

Bei den in der Radiologie durchgeführten Verfahren sind in der Regel nur winzige Hautschnitte notwendig, um in den Körper einzudringen. Material dringt senkrecht in die Tiefe der Blutgefäße ein. Die behandelnden Hände folgen dabei dem technologischen Röntgenblick.
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Unterschiedliche Körpermodelle
RadiologInnen schauen nicht in den Körper, sondern auf die Monitore. Organe und Gewebsschichten werden als transparent und in Form von zweidimensionalen Videobildern dar- und vorgestellt. Hingegen beinhalten chirurgische Vorstellungen vom Körperinnern einen dreidimensionalen Raum, in den horizontal hinein geschnitten wird, um die Sicht freizumachen und um Krankhaftes herauszuschneiden.

Konventionell chirurgische Operationen sind meist mit sichtbaren Narben verbunden, die das Invasive bezeichnen. Als minimal-invasiv definierte Bild unterstützte Verfahren hinterlassen kaum sichtbare Spuren auf der Körperoberfläche.
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Auch Radiologie wird intensiv-invasiv erlebt
Das Gespür für sich selbst und die Empfindungen während der als minimal-invasiv geltenden Eingriffe in der interventionellen Radiologie, die Ängste, die mit solchen Operationen verbunden sind, stehen den PatientInnen förmlich ins Gesicht geschrieben und finden in den individuellen Krankengeschichten und in den erzählten Erfahrungen ihren Ausdruck.

Obwohl im klinisch sterilen Setting rasch gelernt wird, die Strukturen des eigenen Innenlebens als entkörperte reine Objekte zu betrachten, die mehr oder weniger unabhängig vom eigenen Spüren existieren, werden die Interventionen häufig intensiv-invasiv erlebt und gehen im sprichwörtlichen Sinne unter die Haut.
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Das "Hertha-Firnberg"- Programm
Christina Lammer lebt und arbeitet als Soziologin in Wien. Sie wurde im Jahr 2000 mit einer Stelle im Rahmen des Hertha-Firnberg-Programmes ausgezeichnet, das vom Wissenschaftsfonds (FWF) im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur durchgeführt wird. Ziel des Programmes ist es, zur besseren Verankerung von Frauen an Universitäten beizutragen.
->   Hertha-Firnberg-Programm (FWF)
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->   Uni-Klinik für Radiodiagnostik, AKH Wien
->   Verleihung der Hertha Firnberg-Stellen 2002
->   Weitere Geschichten von Hertha-Firnberg-Forscherinnen in science.ORF.at
 
 
 
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01.01.2010