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Historikerkommission: NS-Entschädigung oft nur halbherzig  
  "Oft nur halbherzig und teilweise recht zögerlich" hat die Republik Österreich nach 1945 bei der Entschädigung der Nazi-Opfer agiert. Zu diesem Schluss kommt die seit Herbst 1998 arbeitende Historikerkommission, die am Montag ihren offiziellen Endbericht präsentiert hat.  
Es gibt keine einfachen Antworten
Auf insgesamt 14.000 Seiten werden der Raub durch das NS-Regime und die Versuche der Wiedergutmachung akribisch nachgezeichnet.

Einfache Antworten oder eine Bilanz muss die Kommission dabei schuldig bleiben. Dass Österreich gar nichts für die Opfer unternommen habe, stimme aber nicht, wird betont.
Restitution: "Oft halbherzig und teilweise zögerlich"
Wörtlich heißt es dazu im zusammenfassenden Schlussbericht, der vorerst im Internet veröffentlicht wird: "Allerdings ist der Vorwurf unzutreffend, dass die Republik Österreich nichts unternommen habe, um Vermögenswerte zu restituieren oder Leiden zu mildern. Wahr ist aber auch, dass Maßnahmen zur Rückstellung und Entschädigung oft nur halbherzig und teilweise recht zögerlich - allzu oft nur aufgrund äußeren Drucks besonders durch die Westalliierten - getroffen wurden und dass die Probleme vor allem im Detail aufgetreten sind."
->   Der Schlussbericht (pdf-Datei)
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Seit 1998: 160 Forscher und 53 Berichte
Die Historikerkommission wurde am 1. Oktober 1998 von der damaligen rot-schwarzen Regierung unter Bundeskanzler Viktor Klima (SPÖ) und Wolfgang Schüssel (ÖVP) als Vizekanzler eingesetzt. Als Mandat bekam sie mit auf den Weg, "den gesamten Komplex Vermögensentzug auf dem Gebiet der Republik Österreich während der NS-Zeit sowie Rückstellungen bzw. Entschädigungen (sowie wirtschaftliche oder soziale Leistungen) der Republik Österreich ab 1945 zu erforschen und darüber zu berichten".

Zum Vorsitzenden bestellte die Regierung den Präsidenten des Verwaltungsgerichtshofs (VwGH), Clemens Jabloner. Ihm zur Seite standen insgesamt acht Historiker und Juristen als Mitglieder der Kommission bzw. "ständige Experten". An den 47 Projekten, aus denen 53 vorerst im Internet veröffentlichte Berichte hervorgegangen sind, haben 160 Forscher gearbeitet.
->   Die Historikerkommission
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Missbrauch der "Opferthese"
Wurzel des Übels sei oftmals der "Missbrauch der 'Opferthese'", nach der die Republik Österreich 1938 überfallen worden war und ihr die Untaten des NS-Regimes daher nicht zugeschrieben werden konnten.

Diese Leugnung der Mitverantwortung habe dann auch dazu geführt, dass eine notwendige "freimütige Großzügigkeit" gefehlt habe.
Wirtschaftliche Schädigung und Vernichtung
Systematisch beraubt worden waren jedenfalls mehrere Bevölkerungsgruppen. Bei den Juden zerstörte die "Arisierung", die wirtschaftliche Schädigung, die gesamte soziale und individuelle Existenz, sie ging einher mit Vertreibung und Vernichtung.

Für zahlreiche Österreicher, die nicht zu den Verfolgten gehörten, wirkte sich die massenhafte Enteignung hingegen sehr positiv aus.
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"Organisierte Kriminalität"
Jabloner dazu im ORF-Radio: "Die Österreicherinnen und Österreicher waren sehr konkret an dieser Beraubung beteiligt. Das Ganze war ja ein Vorgang organisierter Kriminalität. Da hat sich der Nachbar schon einmal das Klavier aus der Nebenwohnung geholt. Viele waren auch Nutznießer, indem sie dann zu günstigen Mietwohnungen gekommen sind, auch wenn sie nicht selbst aktiv an den Beraubungen beteiligt waren."
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Juden, Sinti, Roma: Enteignet, ermordet
Rund 200.000 Juden lebten in Wien vor 1938, in Wien überlebt hatten bis 1945 etwa 1.000. Von den rund 11.000 Roma und Sinti wiederum haben nur etwa 1.500 bis 2.000 die NS-Herrschaft überlebt.

Vor allem Liegenschaften der Umgekommenen blieben praktisch durchgehend unbeansprucht und fielen oft an die Republik.
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Weitere Opfergruppen
Thema der Historikerkommission sind auch die Kärntner Slowenen, die Tschechen, die Kroaten und Ungarn, Homosexuelle, "Euthanasie"-Opfer und politisch Verfolgte. Von Raub und Vermögensentzug betroffen waren aber nicht nur Einzelpersonen, sondern auch verschiedene Organisationen und Vereine sowie die Kirchen und Unternehmen.
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Bilanz nicht möglich ...
Einfache Antworten oder eine Bilanz - auf der einen Seite Vermögensentzug, auf der anderen Rückstellung - musste die Kommission über weite Strecken schuldig bleiben. Die Gründe dafür sind vielfältig.

Zum einen bleibt offen, wie der Schilling oder die deutsche Reichsmark des Jahres 1938 in aktuelle Euro umgerechnet werden sollen. Der Standardwert dafür wäre der Verbraucherpreisindex. Allerdings haben sich Konsumverhalten und Angebot komplett geändert, was die Vergleichbarkeit in Zweifel ziehe.
... wegen schwieriger Vergleichsmöglichkeiten
Dazu kommt, dass die Entwicklung des Wertes etwa bei Liegenschaften und Betrieben von einer ganzen Reihe weiterer Faktoren abhängig sei, welche die Vergleichbarkeit beeinflussen.

Schließlich sind vor allem bei außergerichtlichen Vergleichen, die oft am Schluss von Restitutionsverfahren gestanden sind, nicht mehr alle für eine Bewertung nötigen Unterlagen vorhanden.

Deswegen, so heißt es wörtlich, könne "die oft nachgefragte konkrete Bezifferung der Leistungen der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus nicht vorgenommen werden."
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Kommission selber ein "geschichtliches Ereignis"
Die Historikerkommission war mehr als nur eine Plattform von Wissenschaftlern, die österreichische Zeitgeschichte erforscht haben. Sie ist selbst zum "geschichtlichen Ereignis" geworden, heißt es im 450 Seiten starken "Schlussbericht", der so etwas wie eine Zusammenfassung versucht: "Selten wird die Geschichtsforschung selbst in einer so unmittelbaren und expliziten Weise Teil eines mit dem untersuchten Gegenstand in engster Verbindung stehenden historischen Prozesses."

Die Berichte sind - mit Ausnahme der bereits vorab publizierten - vorerst nur im Internet verfügbar, werden vermutlich im Lauf dieses Jahres aber auch gedruckt vorliegen. Ergebnis der Arbeit sind auch eine Reihe von Datenbanken, die online zugänglich gemacht werden sollen.
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Kein Schlussstrich unter NS-Aufarbeitung
Das - ohnehin unmögliche - Unterfangen eines Aufrechnens von Vermögensentzug und Restitution solle in jedem Fall keinen "Schlussstrich" unter Österreichs Beschäftigung mit seiner NS-Vergangenheit bieten.

Im Schlusssatz des Berichts heißt es, dass der Einwand, wonach "sich das Interesse an der Monetarisierung von Geschichte, der Umrechnung von Schuld in Schulden möglicherweise selbst aus dem Wunsche nach Schuldabwehr speise", ernst genommen werden soll.
Wissenschaftliche Auseinandersetzung erwünscht
Der dem "Vorgang der Entschädigungszahlung innewohnenden affirmativen Tendenz - Österreich sei dadurch mit seiner Vergangenheit endgültig ins Reine gekommen -" sei skeptisch zu begegnen.

Kommissionsvorsitzender Jabloner betont so auch in seinem Vorwort, dass der Bericht bzw. die Berichte nun Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung sein müssten. Man hoffe auf "weiterführende, vertiefende und vielleicht auch korrigierende Forschung".
 
 
 
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01.01.2010