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Bakterium liefert Hinweise auf Völkerwanderung  
  Ein winziges Magenbakterium liefert Hinweise, auf welchen Wegen unsere Vorfahren die Welt besiedelt haben. Deutsche Forscher haben den Krankheitserreger untersucht - und mit genetischen Methoden seine weltweite Populationsstruktur aufgeklärt. Demnach sind infolge der Jahrtausende langen geografischen Isolation der menschlichen "Wirtsorganismen" insgesamt sieben bakterielle Populationen entstanden, die die Menschen seither bei ihren Wanderungen begleitet haben und die Ausbreitung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen widerspiegeln.  
Wie die Forscher vom Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie in Berlin und vom Institut für Hygiene und Mikrobiologie der Universität Würzburg im aktuellen "Science" berichten, haben sie die vorgeschichtlichen Völkerwanderungen mit Hilfe des Magenbakteriums Helicobacter pylori rekonstruiert.

Nicht zuletzt sind ihre Ergebnisse auch von großem Interesse für die Medizin - denn weltweit sterben Schätzungen zufolge rund sieben Millionen Menschen pro Jahr an einer Infektion mit dem Bakterium.
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"Traces of human migrations"
Der Originalartikel der Forschergruppen ist unter dem Titel "Traces of human migrations in Helicobacter pylori populations" im Fachmagazin "Science", Bd. 299, Nr. 5612, Seiten 1582-1585, vom 7. März 2003 erschienen.
->   Originalartikel (kostenpflichtig)
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Bakterien-Evolution durch Gene erforschbar
Die Evolution von Bakterien muss durch genetische Analysen an heute existierenden Bakterien erforscht werden. Helicobacter pylori besiedelt die Magenschleimhaut bei mehr als der Hälfte der Weltbevölkerung - die DNA-Sequenzen von H. pylori sind allerdings in Abhängigkeit von der geografischen Region, in der die Bakterien isoliert wurden, sehr unterschiedlich.
H. pylori und Mensch - zusammen seit Urzeiten
Die Berliner und Würzburger Infektionsforscher konnten jetzt - zusammen mit Kooperationspartnern von sechs weiteren Universitäten in den USA und in Frankreich - zeigen, dass H. pylori den Menschen bereits seit Urzeiten bei seinen Migrationen begleitet hat.
Ursprünge in Afrika, Nahem Osten, Zentral- und Ostasien
Die gefundenen ursprünglichen H. pylori-Populationen stammen demnach aus Afrika, dem Nahen Osten, Zentralasien und Ostasien.

Durch Vergleich zwischen diesen ursprünglichen und den heutigen Populationen kann man nun rekonstruieren, wie H. pylori sich über die Wanderungen von menschlichen Bevölkerungsgruppen auf der Erde verbreitet hat.
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Die genetischen Untersuchungen im Detail
Sie bestimmten die Nukleotid-Sequenz repräsentativer Gene für 370 H. pylori-Stämme aus 27 ethnischen Gruppen und geographischen Lokalisationen und erhielten auf diese Weise 370 H. pylori-Haplotypen mit 1.418 polymorphen Nukleotiden. Die populationsgenetische Analyse der Sequenzdiversität zeigte, dass sich die Bakterien sieben "modernen", also heute existierenden Populationen und Subpopulationen zuordnen lassen. Die Wissenschaftler entwickelten deshalb eine neue mathematische Methode, um aus den modernen Populationen deren frühere Vorfahren zu rekonstruieren.
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Bakterieller Austausch von DNA
Treffen verschiedene H. pylori-Stämme im Magen eines Menschen aufeinander, können sie Erbinformationen untereinander austauschen, indem lebende Bakterien "freie DANN" von abgestorbenen Bakterien aufnehmen.

So sind die heute in Europa nachweisbaren H. pylori-Bakterien das Ergebnis einer genetischen Fusion, entstanden durch die Rekombination von zwei alten Populationen, die unabhängig voneinander aus Zentralasien und aus dem Nahen Osten nach Europa eingewandert sind.
Wanderbewegungen menschlicher Bevölkerungsgruppen
 
Grafik: Max-Planck-Institut f¿r Infektionsbiologie

Wanderbewegungen menschlicher Bevölkerungsgruppen auf der Erde: Die Pfeile zeigen die Migrationen einzelner H. pylori-Populationen mit ihren menschlichen Trägern.

Andere H. pylori-Populationen entwickelten sich während der mehrere Tausend Jahre langen Isolation der Polynesier im Pazifik, der Wanderung der sibirischen Vorfahren der Indianer über die Beringstraße nach Amerika oder der Expansion der Bantu in Afrika.
Heute: Häufig Konkurrenz zwischen Bakterien
In vielen Gegenden der Erde herrscht heute durch die Vermischung der Bevölkerungsgruppen eine heftige Konkurrenz zwischen den ursprünglich ansässigen H. pylori-Bakterien und jüngeren "Einwanderern", die durch Migrationen in den letzten Jahrhunderten importiert wurden.
Beispiel Sklavenhandel
Beispiele für solche Wanderbewegungen, deren Spuren sich in den heutigen H. pylori nachweisen lassen, sind die von Europa ausgegangenen Kolonialisierungen von Nord- und Südamerika, Afrika und Australien sowie der Sklavenhandel.
Auswirkungen auf die Behandlung von Infektionen
Die neuen Forschungsergebnisse könnten wichtige Auswirkungen auf die Behandlung von H. pylori-Infektionen haben, da genetische Unterschiede zwischen verschiedenen bakteriellen Populationen auch eine unterschiedliche Virulenz der Bakterien zur Folge haben könnten.

Diese Unterschiede könnten zudem auch die Effizienz von Behandlungen mit Antibiotika beeinflussen und müssen bei der Entwicklung eines Impfstoffes gegen H. pylori in Betracht gezogen werden - wenn dieser Schutz gegen alle Stämme aus allen Regionen der Welt verleihen soll.
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Was kann durch eine Infektion passieren?
Eine Infektion mit H. pylori kann zu einer chronischen Magenentzündung (Gastritis) oder zu Magen- und Zwölffingerdarm-Geschwüren führen, wenn keine Behandlung erfolgt. Durch die Infektion erhöht sich außerdem das Risiko, an bösartigen Tumoren wie dem Magenkarzinom oder -lymphom zu erkranken. Nach Schätzungen ist das Bakterium jährlich für den Tod von sieben Millionen Menschen verantwortlich.
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Nützlich für Klärung kontroverser Fragen?
Der englische Mikrobiologe Brian G. Spratt fragt in einem Kommentar zu dieser Publikation in der selben Ausgabe von "Science", ob H. pylori geeignet wäre, Entscheidungshilfen bei der Interpretation kontroverser menschlicher Migrationen zu leisten.

Er kommt zu dem Schluss, dass H. pylori-Daten für die Entwirrung der komplexen Völkerwanderungen in Europa oder Asien wahrscheinlich nicht ausreichen.

Da die Ausbreitung von H. pylori eine gewisse Intensität der menschlichen Beziehungen voraussetzt, können diese Analysen aber Rückschlüsse erlauben, wie eng die menschlichen Kontakte zu verschiedenen Zeiten waren und so Einblicke in die noch wenig verstandene Epidemiologie der Infektionskrankheit ermöglichen.
->   Max-Planck Institut für Infektionsbiologie
->   Institut für Hygiene und Mikrobiologie der Universität Würzburg
->   Mehr zum Bakterium Helicobacter pylori in science.ORF.at
 
 
 
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01.01.2010