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Der schwierige Weg zu einer Europa-Identität  
  Die Bildung einer gemeinsamen europäischen Identität ist ein langwieriger Prozess. Die größten Hindernisse dabei sind verschiedene ökonomische Interessen, ideologische Positionen und nationale Geschichtsbilder. Seit 1996 widmet sich ein österreichischer Forschungsschwerpunkt (FSP) dieser Identitätssuche innerhalb der Europäischen Union. Die FSP-Leiterin und Diskursforscherin Ruth Wodak beschreibt in einem Gastbeitrag an Hand der Beispiele von Deutschland, Frankreich und Großbritannien, wie widersprüchlich sie ablaufen kann.  
Europäische Debatten auf dem Prüfstand
Ein Gastbeitrag von Ruth Wodak

Ich habe mich entschieden, mit den Geldmitteln des an mich verliehenen Wittgenstein-Preises 1996 einen Forschungsschwerpunkt zu den Themenbereichen "Diskurs, Politik, Identität" zu errichten. Dies ganz bewusst, denn die Identitätssuche in vielen gesellschaftlichen Bereichen wirkt bestimmend für viele politische Entscheidungen und Konflikte.

Ebenso gewinnt Kommunikation in allen Ausformungen, vom Text zum Symbol, vom Brief und einer Rede bis zum SMS einen zentralen Platz in unserem Leben und Alltag.
Diskurs ist soziales Handeln
Durch die neuen Medien hat sich unser Alltag signifikant verändert: Die traditionellen Konzepte von Raum und Zeit sind andere geworden. Grenzen verfließen, immer wieder verändert sich, wer "drinnen" und wer "draußen" ist und bleibt.

"Diskurs", also Kommunikation in historischen, wie auch gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontexten, kann linguistisch sehr präzise untersucht werden. Dabei muss Diskurs als soziales Handeln definiert werden, ausgehend vom "Sprachspiel-Konzept" (L. Wittgenstein). Denn, wenn man spricht, so handelt man auch.
Hypothese: Spannungen zwischen verschiedenen Identitäten
Unsere Ausgangshypothese war, dass die vielfältigen Entwicklungen innerhalb der EU zu großen Spannungen zwischen lokalen, regionalen, nationalen und supranationalen Interessen und Identitäten führen.

Und dass diese sich sowohl auf der strukturellen Makro- und Mikroebene der EU-Organisationen als auch im Bereich nationaler und regionaler Institutionen u. a. diskursiv manifestieren.
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Politische und kulturelle Werte geprägt von Vergangenheit
Eingehende Analysen schriftlicher, mündlicher und visueller Daten gaben neue Erklärungen für aktuelle politische und soziale Wandlungsprozesse in Europa. Vor allem die Analyse der Debatten über eine europäische Wertegemeinschaft zeigte, dass politische und kulturelle Werte in historischer Abhängigkeit von unterschiedlichen nationalen Traditionen, Narrativen und Weltanschauungen stehen.

Darüber hinaus kommen in einer solchen Diskussion aber auch transnationale Faktoren wie die Migration, die "Globalisierung" und Fragen der Sicherheit zum Tragen.
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Forschungsprojekt: Europäische Identitätskonstruktionen
In einem der sieben Subprojekte unseres Forschungsschwerpunktes untersuchten wir die aktuellen Debatten zur Konstruktion einer europäischen Identität.
Drei Ziele: Sinngebung, Organisation und Definition Europas
Es zeigte sich, dass im allgemeinen drei Ziele verfolgt werden: 1. Europa Sinn zu verleihen, 2. Europa zu organisieren und 3. Europa zu standardisieren/definieren. Daraus ergeben sich drei Legitimationsrichtungen zur EU und ihrer Erweiterung.

Einerseits soll die EU in ihrer zukünftigen Gestalt "die Idee" und "das Wesen" "Europas" repräsentieren. Andererseits sollen ihre Institutionen die European citizens und deren Willen repräsentieren und eine effiziente wie transparente Entscheidungsfindung garantieren.

Schließlich soll die EU neue Rahmengesetze bestimmen, wie jene zum Erwerb der Staatsbürgerschaft bis zu Richtlinien einer europäischen Sprachenpolitik.
Reden-Vergleich von Fischer, Blair und Chirac
Soviel zur allgemeinen Charakteristik des Europa-Diskurses. Aber wie sieht das Europabild in den einzelnen Nationen aus? Wie sehen es beispielsweise Deutschland, England und Frankreich?

Dazu untersuchten wir u. a. Reden regierender, prominenter Politiker - beispielsweise von Joschka Fischer, Tony Blair und Jacques Chirac - und verglichen sie miteinander.
Europa für Frankreich ein "Zivilisationsprojekt" ...
Wir konnten zahlreiche Unterschiede zwischen den nationalen Europa-Bildern erkennen. So hat jede Nation ihre eigene Vision von einem gemeinsamen Europa, die wiederum von der eigenen Geschichte und Entwicklung geprägt ist.

Aus französischer Sicht ist Europa eine Vision, ein "Zivilisationsprojekt" im Sinne der französischen Revolution. Französische Reden neigen daher dazu, Europa zu temporalisieren. Es ist eine Projektion in die Zukunft, ein "Erwartungsdiskurs", der eines starken politischen Willens bedarf.
... für Deutsche eine territoriale Rechts-Institution ...
Im Unterschied dazu setzen die deutschen Reden vorrangig auf verfahrensmäßige Aspekte. Hier steht die rechtlich-institutionelle Neuordnung der EU im Vordergrund. Idealtyp sind der deutsche Rechtsstaat und das deutsche Grundgesetz. Darüber hinaus tendieren deutsche Reden dazu, Europa zu territorialisieren.
... und für Briten etwas sehr Ambivalentes
Britische Reden hingegen, zeigen weder eine emotionale Identifizierung mit dem "Projekt Europa" wie die französischen, noch einen dominant institutionellen Aspekt wie die deutschen.

Sie sind geprägt von einer heiklen Balance zwischen dem ambivalenten Wunsch nach Unabhängigkeit und gleichzeitiger Integration. Mitunter stellen sie sich als Listen mit Pros und Contras zu Europa dar.
Eigene Geschichte prägt Europa-Bild
Die Dominanz der jeweils eigenen Geschichte macht also die gegenwärtig gewünschte, konsensuelle Bildung einer gemeinsamen europäischen Identität sehr problematisch und langwierig.
Internationalität und Interdisziplinarität: Perspektiven
Die vergangenen sechs Forschungsjahre haben in vielerlei Hinsicht entscheidende Fortschritte und Innovationen im Bereich der Diskursforschung gebracht. Es ist uns gelungen, ein interdisziplinäres Netzwerk von WissenschaftlerInnen und wissenschaftlichen Institutionen im In- und Ausland aufzubauen.

Dies ermöglichte eine länderübergreifende theoretische und anwendungsorientierte Diskursforschung mit einer Vielzahl an konkreten Ergebnissen.
Arbeit wird fortgesetzt
Wir setzen unsere Arbeit natürlich fort. In zwei EU-Projekten und einzelnen national geförderten Projekten. Auf Einladung der Universität Wien übersiedeln wir vorläufig aus der Akademie der Wissenschaften wieder an die Universität Wien, die uns dankenswerter Weise Räume zu Verfügung stellt wie auch eine Zwischenfinanzierung.

Die Universität Wien ist sicherlich ein geeigneter Ort, solche innovative interdisziplinäre Forschung weiter zu führen.

Wien ist in den letzten sechs Jahren zu einem international anerkannten Zentrum der theoretischen und angewandten Diskursforschung geworden.
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Diskursforscherin Ruth Wodak
Ruth Wodak - die Autorin dieses Gastbeitrags - ist seit 1991 Professorin für Angewandte Sprachwissenschaft an der Universität Wien. Von Oktober 1999 bis Oktober 2002 hatte sie eine Forschungs-Professur bei der Österreichischen Akademie der Wissenschaften inne, Gastprofessuren u.a. an der Stanford University, am Collegium Budapest und an der University of East Anglia, Norwich, UK. 1996 erhielt sie den Ludwig Wittgenstein-Preis für Elite-Forscher (1996) und leitet den Forschungsschwerpunkt (FSP) "Diskurs, Politik, Identität".
->   Details zur Forschung und Publikationsübersicht des FSP
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01.01.2010