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Russlands wissenschaftlicher Aderlass  
  Die russische Intelligentsia verlässt das Land. Verlockende Angebote aus dem Ausland und die teilweise desaströsen Zustände im eigenen Land verstärken den intellekteullen Aderlass Russlands.  
Einst war Akademgorodok der Stolz der Sowjets. Im Westen Sibiriens wurde eine ganze Stadt für die wissenschaftliche Elite des Landes gebaut, auf die sich die kühnsten Träume von einer in der Welt führenden Hightech-Nation gründeten.
Trübes Dasein
Doch der Kalte Krieg ist längst vorbei, und heute fristet die
russische Forschung ein trübes Dasein. Der Verfall der verlassenen Institute von Akademgorodok inmitten der sibirischen Taiga ist symptomatisch für die Lage der russischen Wissenschaft.

Es mangelt an Geld und technischer Ausrüstung. Die händeringend gebrauchten Nachwuchskräfte wandern ins Ausland ab, wohin sie mit goldenen Gehältern und modernen Arbeitsstandards gelockt werden.
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''Korruption und Vetternwirtschaft überall''
Bei der Durchfahrt wirkt Akademgorodok mit seinen leer stehenden Gebäuden fast wie eine Geisterstadt. "Was halten Sie von unserer 'Schönen Neuen Welt'?" Eine solche sarkastische Anspielung auf Aldous Huxleys futuristischen Roman kann nur ein Russe machen. Trotzdem erhält Michail Serjoschkin von seinen Besuchern eine vorsichtig-höfliche Antwort: "Es ist sehr interessant." Wirklich beurteilen könne das sowieso nur jemand, der hier lebe, sagt der Computerexperte. "Wir sind in einer Falle. Keine Arbeit, kein Geld. Korruption und Vetternwirtschaft überall."
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Chruschtschows Vision
Akademgorodok hat schon bessere Zeiten gesehen. In den 50er Jahren hatte der damalige kommunistische Staatschef Nikita Chruschtschow die strahlende Vision einer Stadt des Wissens. Rund 30 Kilometer von Nowosibirsk wurde dann 1958 der Grundstein gelegt.

Innerhalb von sieben Jahren zogen 40.000 Menschen aus der ganzen Sowjetunion in die sibirische Stadt: Mathematiker, Atomphysiker, Wirtschaftswissenschaftler oder Genforscher brachten auch gleich ihre Familien mit. Damals profitierten sie von der relativen Freiheit, um sich in 15 Forschungsakademien ohne ideologisches Zaumzeug auszutoben.
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''Der Traum wandte sich ins Gegenteil''
Doch mit Chruschtschows Sturz begann der Niedergang, erzählt der Physiker Alexander Gerdukin: "Der Traum wandte sich ins Gegenteil." Die eiserne Umklammerung durch die Partei habe sich immer fester um die Forscher geschlossen. Nicht nur in ideologischer Hinsicht, auch wirtschaftlich habe sich der Druck gewaltig verstärkt. Bei jedem einzelnen Projekt wurde nach der kurzfristigen Rentabilität gefragt. "Das erstickte einfach jegliche intellektuelle Freiheit."
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Rauhes Klima unter Breschnew
Das rauher werdende Klima zu Leonid Breschnews Zeiten war noch harmlos im Vergleich zu der Misere, in der die russische Wissenschaft heute steckt. Seit 1991 seien die staatlichen Forschungsmittel auf ein Sechstel geschrumpft, warnte der Minister für Wissenschaft und Technologie, Alexander Dondukow, vergangene Woche in der Duma.

Resultat: Innerhalb weniger Jahren fiel Russland aus dem Zenith der einstigen wissenschaftlichen Supermacht in die Niederungen technisch unbedeutender Länder.
Dramatischer Schwund an Wissenschaftlern
Alarmierend ist außerdem der drastische Schwund der in Russland arbeitenden Wissenschaftler. Binnen zehn Jahren sank ihre Zahl auf die Hälfte; im vergangenen Jahr waren es nur noch 910.000 Forscher. Besonders Besorgnis erregend sei dieser Aderlass, weil die Nachwuchskräfte auswanderten, betont Serjoschkin.

Seinem Sohn Denis beispielsweise stehe eine glänzende Laufbahn als Computerspezialist bevor. Doch er denke bereits darüber nach, Karriere im Iran zu machen. "Er ist es leid, 2.500 Rubel (etwa 1.300 Schilling) im Monat zu verdienen." Mittlerweile macht der Anteil der Forscher unter 35 Jahren gerade noch elf Prozent aus.
Leise Zuversicht
Trotz all dieser entmutigenden Fakten sieht der Chef der
Regionalregierung von Nowosibirsk, Viktor Tolonsky, Anlass für zuversichtliche Töne. Derzeit bessere sich die Lage leicht, sagte er unlängst bei einer Konferenz, zu der auch Staatschef Wladimir Putin erschienen war.

So sei das Budget für die Wissenschaft seit 1999 wieder um 50 Prozent gestiegen. Entscheidend sei es aber, Akademgorodok wieder zu neuer Blüte zu bringen. Denn die Schlüsselfrage laute: "Wo wird die neue Generation arbeiten, wenn wir bis dahin alles zerstört haben und nichts tun, um ihr normale Arbeitsbedingungen zu bieten?"
->   Akademgorodok im Internet
 
 
 
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01.01.2010