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Wenn Mäuse hoppeln: Die Moleküle der Fortbewegung  
  Die Fortbewegung vieler Tiere einschließlich des Menschen basiert auf der Funktion von so genannten "Mustergeneratoren": Nervenzellen, die durch ihre rhythmische Entladung Laufen, Schwimmen u.v.a. ermöglichen. Wie das Ganze auf molekularer Ebene funktioniert, haben nun skandinavische Biomediziner herausgefunden: Mäuse, denen das entsprechende Gen gezielt aus ihrem Erbgut entfernt worden war, begannen wie Hasen zu hoppeln.  
Nach Verabreichung einer bestimmten Wirksubstanz konnte dieser Effekt jedoch wieder rückgängig gemacht werden. Die Identifikation der Schlüsselmoleküle der Lokomotion weist daher einen neuen Weg für Therapieansätze bei Lähmungen.
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"Role of EphA4 in Circuits That Control Walking"
Die Arbeit "Role of EphA4 and EphrinB3 in Local Neuronal Circuits That Control Walking," von K. Kullander et al. ist erschien im Fachmagazin "Science" (Band 299, Seiten 1889-92, Ausgabe vom 20.3.2003).
->   "Science"
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Die Theorie der Kettenreflexe
Bis zur Mitte der 1930er Jahre war man der Meinung, dass das gesamte Bewegungsinventar der Lebewesen, von einfachen automatisierten Reaktionen bis hin zu komplexen Instinkthandlungen, durch ein biologisches Phänomen erklärbar sei: den Reflex.

Besonders der britische Neurophysiologe Charles Scott Sherrington war ein prononcierter Verfechter der so genannten "Reflexologie". Eine Lehre, derzufolge eine komplexe Instinktbewegung als Kette von einzelnen, gestaffelt ablaufenden Reflexen gedeutet wurde.
Fortbewegung entsteht durch endogene Rhythmen
Erst der deutsche Physiologe Erich von Holst brach mit dieser Auffassung, als er zeigen konnte, dass das Zentralnervensystem Verhalten durch innere Impulse selbst hervorrufen und steuern kann - und somit keine Reflexketten produziert.
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Anekdote von Holst und Lorenz: "Idiot, Idiot"
Zu diesem Meinungsumschwung gibt es eine hübsche Anekdote aus Konrad Lorenz' intellektueller Autobiographie, die auf der Webiste des Nobel-Museums nachzulesen ist. Im Jahr 1936 hatte Holst bei einem Vortrag mit den Worten "Idiot, Idiot" reagiert, als Lorenz die (veralteten) Argumente der Reflexologie bemühte.
->   Nobel Laureates 1973: Konrad Lorenz
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Mustergeneratoren ermöglichen koordinierte Bewegung
Heute weiß man, dass viele Verhaltensweisen - wie z.B. Beinbewegungen beim Gehen, Schwimmen sowie Atmungs-, Kopulations- und Eiablagebewegungen - durch Gruppen spezieller Nervenzellen mit rhythmischer Entladungsaktivität hervorgerufen werden. Man spricht in diesem Fall von "central pattern generators" (CPGs), zu deutsch "zentrale Mustergeneratoren".
Molekulare Ursachen bislang unklar
Bislang war allerdings unklar, wie solche Schrittmacherzentren auf molekularer Ebene funktionieren. Eine Forschergruppe um Klas Kullander vom Department of Medical Biochemistry der Universität Göteborg hat dieses Geheimnis nun gelüftet.
Mit Gen-Knockout den Molekülen auf der Spur
Die skandinavischen Forscher stellten zunächst so genannte Knockout-Mäuse her, denen das Gen für jene Moleküle fehlte, die bereits im Verdacht für eine diesbezügliche Funktion standen.

Dabei handelte es sich um einen so genannten EphA4-Rezeptor und ein dazupassendes Liganden-Molekül.
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Eph-Rezeptoren und ihre Liganden, die Ephrine
Eph-Rezeptoren sind Rezeptoren von Nervenzellen mit einer so genannten Tyrosin-Kinase-Aktivität. Letzteres bezeichnet Enzyme, die eine wichtige Rolle bei der Signalübertragung ("Transduktion") spielen. Als Liganden bezeichnet man Moleküle, die an Rezeptoren binden und dadurch spezifische Folgereaktionen auslösen. Im Fall der Eph-Rezeptoren gehören die Liganden zur Gruppe der Ephrine.
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Knockout-Mäuse hoppeln wie Hasen
Kullander und seine Mitarbeiter konnten zeigen, dass die Knockout-Mäuse nicht die typisch alternierende Bewegungsweise des Laufens aufwiesen, sondern vielmehr ihre Beinmuskeln synchron kontrahierten. Das Ergebnis war eine Bewegungsform, die an das Hoppeln von Hasen erinnert.

 
Bild: Science

Genetisch unveränderte Mäuse zeigen beim Laufen die typisch alternierende Bewegung ihrer Beine (links). Mäuse mit einem Gen-Knockout eines Eph-Rezeptors (mitte) bzw. dessen Liganden (rechts) hoppeln hingegen ähnlich wie Hasen.
Missverhältnis von Erregnung und Hemmung
Die Biomediziner interpretieren das Ergebnis als Missverhältnis von Erregung und Hemmung in den "central pattern generators" (CPGs).

Der Nachweis für diese Vermutung wurde dadurch erbracht, dass man Knockout-Mäusen die Substanz "Sarcosin" verabreichte. Dadurch wurde das hemmende System im CPG künstlich gestärkt. Das Resultat: Die normale Bewegungsform wurde wiederhergestellt.
Hoffnung für Querschnittgelähmte?
Nachdem bereits im Jahr 1998 nachgewiesen wurde, dass auch der Mensch ähnliche CPGs im Rückenmark aufweist, erhofft man sich von dieser Erkenntnis neue molekulare Therapieformen von Lähmungen.

Robert Czepel, science.ORF.at
->   Das Molekül des Vergessens
->   Moleküle bringen gelähmte Ratten zum Laufen
->   Biochemie der Erektion
 
 
 
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01.01.2010