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Menschenökonomie und Humankapital: Was kostet ein Menschenleben?  
  Inwiefern betrifft Biopolitik unser tägliches Leben? Wie wird die Forderung nach Lebenssteigerung und -optimierung volkswirtschaftlich legitimiert und umgesetzt? Dieser Frage geht der deutsche Soziologe Ulrich Bröckling in einem soeben auf "Eurozine" erschienenen Aufsatz nach - und verbindet dabei zwei scheinbar differente Ansätze: die "Menschenökonomie" und die "Theorie des Humankapitals".  
Biopolitik: Bewirtschaftung des menschlichen Lebens
Jede Diskussion um Präimplantationsdiagnostik oder therapeutisches Klonen hat letztlich mit der Frage nach Biopolitik zu tun.

Nach dem französischen Philosophen Michel Foucault entstand die Biopolitik, "wo das Kollektivsubjekt Bevölkerung als Gegenstand politischer Interventionen auftauchte, also im 18. bzw. frühen 19. Jahrhundert" und zielt auf eine möglichst effiziente Verwaltung und Bewirtschaftung des menschlichen Lebens.
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Ulrich Bröcklings Artikel ist in der letzten Nummer der Zeitschrift "Mittelweg 36" und in "Eurozine" nachzulesen.
->   Der vollständige Artikel in "Eurozine"
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Menschenökonomie und Humankapital-Theorie
Zwei Theorien interessieren Bröckling im Zusammenhang mit seinem Thema: erstens die Anfang des 20. Jahrhunderts entstandene "Menschenökonomie" des heute weitgehend vergessenen österreichischen Sozialphilosophen und Finanzsoziologen Rudolf Goldscheid.

Und zweitens die im ausgehenden 20. Jahrhundert entstandenen Theorie des Humankapitals der US-amerikanischen Ökonomen Theodore W. Schultz und Gary S. Becker.
Goldscheid: Regulierung des menschlichen Lebens ...
Rudolf Goldscheid sprach sich in seiner Programmschrift "Entwicklungswerttheorie, Entwicklungsökonomie, Menschenökonomie" von 1908 für eine allumfassende Regulierung des menschlichen Lebens aus und forderte eine genaue Erhebung von Kosten und Nutzen des Menschen.
... via Milieuverbesserung, nicht Rassenhygiene
Goldscheid verpflichtet jedes Individuum dazu, das Beste aus sich zu machen, also entwicklungsökonomisch zu leben und sich fortwährend zu fragen: "Verwerte ich hier meine Lebenskraft, verwerte ich hier meine qualifizierte Arbeitskraft mit dem höchsten möglichen evolutionistischen Nutzeffekt?"

Dabei setzte Goldscheid aber nicht auf Selektion, sondern auf Milieuverbesserung und bekämpfte dabei erbittert die Rassenhygieniker.
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Bröckling meint über ihn: "Indem Goldscheid bis ins Bizarre hinein den Wert des Lebens volkswirtschaftlich zu bestimmen versuchte, bewegte er sich trotz seiner hochmoralischen Ökonomie des Mitleids auf dem gleichen Terrain wie jene, die überzeugt waren, dass man aus finanziellen Gründen 'lebensunwertes Leben opfern müsse, um lebenswertes zu erhalten'."
->   Biographisches zu Rudolf Goldscheid
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Becker: Menschen handeln immer ökonomisch ...
Gary S. Becker, der Theoretiker des Humankapitals, klagt am Ende des 20. Jahrhunderts, im Kontrast zu Goldscheid, über zu viel Regulierung. Der Nobelpreisträger Becker ist der Ansicht, dass Menschen ihr Zusammenleben immer und in erster Linie nach ökonomischen Gesichtspunkten gestalten (und nicht gestalten sollten, wie noch bei Goldscheid).

Becker vertraut dabei unbedingt der Logik des Marktes. In einer funktionierenden Marktwirtschaft würde der größte Teil der Humankapitalinvestitionen in die private Verantwortung von Einzelpersonen und Organisationen fallen.
... somit wird jeder zum Souverän seiner selbst
Bröckling meint, dass Becker hier wie ein erzliberaler politischer Ökonom klingt: "In der Humankapitaltheorie wird jeder einzelne nicht nur zum Kapitalisten, sondern auch zum Souverän seiner selbst. Mit jeder seiner Handlungen maximiert er den individuellen Nutzen, übt aber auch die Macht aus, sich selbst "leben zu machen und sterben zu lassen". Folgerichtig heißt es bei Becker, dass "die meisten (wenn nicht alle!) Todesfälle bis zu einem gewissen Grade 'Selbstmorde' sind, in dem Sinne, dass man sie hätte hinausschieben können, wenn man mehr Ressourcen in die Lebensverlängerung investiert hätte."

So zynisch diese Gedanken auch klingen mögen, so fänden sie doch in der Realität immer wieder ihre Bestätigung, so Bröckling.
->   Mehr über Gary S. Becker (Nobel-Stiftung)
Beiden Theorien ist Krise eingeschrieben
Nun kommt Bröckling zu dem interessanten Befund, dass beide Theorien nach einem Gleichgewicht (Kosten-Nutzen oder Marktgleichgewicht) streben, das Normalität verheißen soll. Er meint, dass weder Goldscheid noch Becker von einer Krise sprächen, "und doch ist sie den Theorien des einen wie der anderen eingeschrieben."
"Desinvestment bedeutet Tod"
"In der Krise der Zwischenkriegszeit legitimierte die menschenökonomische Wertberechnung des Lebens mörderische Selektion, in der auf Dauer gestellten Krise der Gegenwart entpuppt sich der 'ökonomische Imperialismus' der Humankapitaltheorie als Apologie eines rücksichtslosen Konkurrenzkampfs aller gegen alle. Wenn die Märkte zu kollabieren drohen, wird die Nutzenmaximierung zum Nullsummenspiel und der homo oeconomicus zum Wolf des Menschen."

Bröckling kommt zu dem Schluss: "Wenn Leben zur ökonomischen Funktion wird, bedeutet Desinvestment Tod."
->   Mittelweg 36
->   Eurozine
->   Weitere Eurozine-Geschichten in science.ORF.at
 
 
 
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01.01.2010