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Zwangssterilisationen in Skandinavien  
  Im Jahr 1997 erschütterte eine Schlagzeile Europa. Die in sozialen Fragen stets als vorbildlich geltenden skandinavischen Staaten sollten bis in die 70er Jahre hinein Zwangssterilisationen routinemäßig und als Instrument der Sozialpolitik vorgenommen haben. Die norwegische Sozialwissenschaftlerin Siri Haavie rollt nun die Debatte von damals erneut auf - und kommt dabei in einem auf "Eurozine" erschienenen Artikel zu dem kontroversiellen Schluss, die Sterilisation sei eine "wichtige und ausgesprochen gut funktionierende Praxis" gewesen.  
Ausgelöst wurde der Skandal von 1997, der sich in der Folge durch die internationale Presse zog, vor allem durch einen Artikel, der in der schwedischen Tageszeitung "Dagens Nyheter" erschien.
Parallelen zur Politik im Dritten Reich
Der Journalist Maciej Zaremba zog darin Parallelen zwischen der skandinavischen Sterilisationspolitik und der Politik im Dritten Reich.

"Während es in Deutschland die Nazis gewesen seien, die den größten Eifer an den Tag gelegt hätten, sich der 'Träger minderwertigen Erbgutes' und der 'Asozialen' zu entledigen, sei in Skandinavien der Wohlfahrtsstaat die treibende Kraft hinter der Säuberungspolitik gewesen", fasst Havie zusammen.
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Siri Haavies Artikel wurde in der norwegischen Zeitschrift "Samtiden" und soeben in "Eurozine" auf Deutsch, Englisch und Norwegisch veröffentlicht.
->   Der vollständige Artikel in "Eurozine"
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Zeitungsberichte von 100.000 Zwangssterilisationen
"Die Zeitungen berichteten, dass mehr als 60.000 Schweden und 40.000 Norweger aus rassenhygienischen Überlegungen und mit Rücksicht auf gesellschaftliche Interessen gegen ihren Willen sterilisiert worden seien", berichtet die Sozialwissenschaftlerin weiter.

Diese seinen insbesondere an Angehörigen ethnischer Minderheiten vorgenommen worden - "an geistig Behinderten, psychisch Kranken und anderen 'Andersartigen'".
Rassenhygienisches Denken - Wohlfahrtspolitik
Damit war die Bombe geplatzt. Bei Nachforschungen stellte sich zwar heraus, dass die behauptete Anzahl von Zwangssterilisationen übertrieben gewesen war, dennoch blieb in den Köpfen der Menschen der Zusammenhang zwischen rassenhygienischem Denken und sozialdemokratischer Wohlfahrtspolitik hängen.
"Wichtige Praxis in der skandinavischen Sozialgeschichte"
Siri Haavie vertritt nun die überraschende Meinung, dass es sich bei den Sterilisationen um "eine wichtige und ausgesprochen gut funktionierende Praxis in der skandinavischen Sozialgeschichte" handelte, die 1997 skandalisiert und kriminalisiert worden sei.

Im Artikel setzt Haavie sich mit der historischen, politischen und rechtlichen Faktenlage auseinander. Dabei kommt sie zu dem Schluss, dass es in den Jahren zwischen 1930 und 1970 zwar auch rassistische und rassenhygienische Argumentationen gab, diese aber als Ausnahmefälle zu betrachten seien.

"Die große Zustimmung, die das Sterilisationsgesetz fand, muss eher im Licht des verbreiteten Engagements der norwegischen Parteien gesehen werden, Armut, Erniedrigung und soziales Elend zu mindern."
Die von der Gesellschaft verdrängten Fragen
Haavie schreckt im Weiteren nicht davor zurück Fragen anzusprechen, die von der Gesellschaft lieber verdrängt werden und warnt davor, zu früh gegen die Sterilisation als Methode der Empfängnisverhütung Position zu beziehen.

Wie ist es etwa, wenn im Norwegen von 2001 die Mutter eines geistig behinderten Mädchens dieses zu einer Sterilisation überredet und zugibt, dass sie damit vor allem mit Rücksicht auf sich selbst gehandelt hat - weil sie weiß, dass sie diejenige wäre, die sich um ihr Enkelkind kümmern müsste?

Wer soll über eine Sterilisation entscheiden, wenn die betroffene Personen selbst nicht in der Lage ist, die Tragweite eines solchen Eingriffs zu verstehen?
Welche Lösungen kann man anbieten?
Viele Fragen bleiben offen, Zweifel bleiben zurück. Sollten bestimmte Menschen in unserer Gesellschaft keine (weiteren) Kinder bekommen? Wenn ja, welche Lösungen können wir ihnen anbieten?, fragt Haavie.
->   Samtiden
->   Eurozine - the Netmagazine
->   Weitere Eurozine-Geschichten in science.ORF.at
 
 
 
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01.01.2010