News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Leben .  Gesellschaft .  Wissen und Bildung 
 
Ikone Doppelhelix: Imagepolitur für Human-Genomprojekt?  
  Pünktlich zum 50-jährigen Jubiläum der Entdeckung der DNA-Struktur am 25. April ergehen sich die Medien in der Huldigung dieses epochalen Ereignisses. Doch warum hat gerade diese Veröffentlichung so großen Ruhm erreicht? Ein Schweizer Wissenschaftshistoriker ortet zwischen Watsons und Cricks Pioniertat und dem Human-Genomprojekt eine Art Symbiose: Die wiederholte Zitierung der Arbeit von 1953 sei vor allem zur Image-Aufwertung eines "langweiligen" Megaprojektes verwendet worden.  
Diese identitätsstiftende Arbeit am kollektiven Gedächtnis gilt nach Ansicht von Bruno J. Strasser der Universität Genf auch für andere Bereiche.

So betrachtet sich etwa auch die Biochemie oder die genetische Pharmazeutik als legitime Nachfolgerin der beiden "Ritter der Doppelhelix" - auch wenn Physiker Crick und Biologe Watson damals herzlich wenig Interesse an diesen Disziplinen hatten.

Nach Strassers Ansicht sagt daher das kollektive Gedächtnis mehr über die Motive der Gegenwart als über jene der Vergangenheit aus.
...
"Who cares about the double helix?"
Der Aufsatz "Who cares about the double helix?" von Bruno J. Strasser erschien im Wissenschaftsmagazin "Nature" (Band 422, S. 803-4, Ausgabe vom 24. April 2003).
->   Nature
...
Klassiker feierte ein stilles Debüt
Entgegen der wissenschaftlichen Legendenbildung war die Arbeit "A Structure for Deoxyribose Acid" nicht von Beginn an der große Schlager, der sie heute zweifelsohne ist. Wie etwa der amerikanische Wissenschaftshistoriker Robert Olby im Jänner dieses Jahre ausführte (Nature 421, S. 402), feierte Watsons und Cricks paper eher ein stilles Debüt.
->   Zum Artikel von R. Olby (kostenfrei)
Retrospektiver Blick verzerrt
Bild: Science
Zur großen wissenschaftlichen Revolution geriet die Entdeckung der DNA-Struktur offensichtlich erst aus dem retrospektiven Blickwinkel.

Ein Blick in die Zitationsdatenbank des Institute for Scientific Information zeigt, dass das Interesse an der Arbeit erst nach der Nobelpreisverleihung an Watson und Crick (1962) anstieg, danach jedoch stark abflaute.

Erst seit den 1990iger Jahren wird die Arbeit sehr häufig zitiert, das seitdem ansteigende Interesse kulminiert im heurigen Jubiläumsjahr mit einem - prognostizierten - Zitationsrekord (siehe Bild rechts).
Das Geheimnis des Erfolges
Doch warum ist das so? Warum wurde das DNA-Molekül zur Ikone der Biowissenschaften und die beiden Autoren zu Helden einer ganzen Forschergeneration?

Bruno J. Strasser von der Universität Genf schlägt in seiner aktuellen "Nature"-Publikation vor, zur Ursachenforschung das Konzept des so genannten kollektiven Gedächtnisses heran zu ziehen.
...
Kollektives Gedächtnis
Der Begriff des kollektiven Gedächtnisses wird in der Geschichts- und Sozialwissenschaft im Sinne einer geteilten Repräsentation der Vergangenheit sozialer Gruppen verwendet. Gut untersuchte Beispiele dafür sind einschneidende historische Ereignisse, wie etwa der Holocaust oder die französische Revolution. Mittlerweile erkennt man auch die Existenz ähnlicher Prozesse in der Wissenschaft an.
...
Erinnerungen stiften Identität
Für Strasser ist der Verlauf von Watsons und Cricks Popularitätskurve zunächst auf die identitätsstiftende Wirkung solcher kollektiver Erinnerungen zurückzuführen. Ein ähnlich gelagertes Beispiel ist etwa eine Arbeit des Chemie-Nobelpreisträgers Linus Pauling zum Thema Sichelzellenanämie aus dem Jahr 1949, die sich ebenfalls großer Beliebtheit erfreut.
Beipiel: Paulings Arbeit über Sichelzellenanämie
Strasser argumentiert, dass die fortwährende Erwähnung von Paulings Veröffentlichung das Konzept der "molekularen Krankheit" stütze sowie Rechtfertigung gegenüber Kritikern der Gen-Therapie erreichen solle.

Ähnlich verfährt man in Bezug auf die Entdeckung der Doppelhelix: Da Leser einer Forschungsarbeit längst wissen, dass die DNA eine Doppelhelix-Struktur aufweist, muss die Zitierung der klassischen Arbeit anderen Motiven dienen.
Hauptmotiv der Zitierung: Konstruktion von Genealogien
Dieses Hauptmotiv sei, so Strasser, die Konstruktion von Genealogien. Beispielsweise beziehen sich namhafte Autoren aus dem Bereich der Biochemie oder der pharmazeutischen Industrie explizit auf Watson und Crick.

Freilich spricht die historische Realität eine andere Sprache. Die beiden DNA-Pioniere waren zur Zeit ihrer Entdeckung keineswegs mit den Details der Biochemie vertraut. Eine Tatsache, die der - als Nobelpreisempfänger übergangene - Biochemiker Erwin Chargaff in seinen Schriften spöttisch betont hatte.
Ursache der Popularität: Human-Genomprojekt
Der Schlüssel zum Verständnis der unglaublichen Popularität der beiden DNA-Pioniere liegt nach Strassers Ansicht in deren Wechselwirkung mit dem Human-Genomprojekt (HGP). Wie Strasser belegt, war das HGP von Anfang an aufs engste mit der klassischen Veröffentlichung von 1953 assoziert.

Der Grund hierfür: "Der bewusste Vergleich des HGP mit der Entdeckung der Doppelhelix ... hob den wissenschaftlichen Wert des Projekts in den Augen seiner Kritiker, die es als geistloses Stück angewandter Wissenschaft betrachteten."

Und, so Strasser weiter: "Indem man die Doppelhelix mit dem höchsten Standard wissenschaftlicher Kreativität gleichsetzte, ließ man die rein beschreibende Genomsequenzierung einfach weniger langweilig aussehen."
Image-Politur für das HGP
Mit anderen Worten, die wiederholte Bezugnahme auf die beiden DNA-Pioniere diente schlichtweg als Image-Politur für das abstrakte Megaprojekt.

Umgekehrt stellt sich natürlich die spekulative Frage, ob Watson und Crick den Status von Science-Popstars auch ohne das HGP erreicht hätten. Doch selbst wenn das nicht der Fall wäre, der wissenschaftliche Wert ihrer Veröffentlichung bliebe davon ohnehin unberührt.

Robert Czepel, science.ORF.at
Features zum Thema:
->   DNA-Double Helix 1953-2003
->   Nature-Schwerpunkt 50 Jahre Doppelhelix
->   BBC: DNA at 50
Mehr dazu in science.ORF.at
->   'Meilenstein': Entzifferung des menschlichen Erbguts
->   DNA-Doppel-Helix: Ein Draht-Modell feiert Geburtstag
->   Die Aufklärung der DNA-Struktur - 50 Jahre danach
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Leben .  Gesellschaft .  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010