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Bürgerkonferenzen: Wenn Laien mitsprechen dürfen  
  Wenn die Experten entscheiden, werden die Laien meistens übergangen. Wie aber könnten wichtige Fragen aus Wissenschaft und Technik demokratisch beantwortet werden? In den letzten Jahren tauchten Bürgerkonferenzen als Instrumente der Mitsprache auf. Zu Beginn einer derartigen Konferenz in Wien kommt der Biologe und Soziologe Rene Zimmer in einem Gastkommentar zu einem positiven Schluss: Bürgerkonferenzen können seiner Ansicht nach Informationsdefizite abbauen, die Auseinandersetzung mit umstrittenen Themen fördern und den Dialog zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit intensivieren.  
Was bringt Bürgerbeteiligung in der Technikbewertung?
Gastbeitrag von Rene Zimmer

Am Beispiel der Bürgerkonferenz "Streitfall Gendiagnostik" in Dresden 2001 lässt sich der Beitrag dieses Verfahrens zu individueller Meinungsbildung, zur Experten-Laien-Kommunikation und zu öffentlicher Debatte analysieren.

Dabei machten sich 19 Bürger Gedanken zum Thema Gendiagnostik - zehn Frauen und neun Männer. Die Bürgerinnen und Bürger waren nach einem deutschlandweiten Auswahlverfahren zur Konferenz eingeladen worden und machten sich an zwei Wochenenden zu Fragen der genetischen Diagnostik schlau.
Entwicklung eigener Fragen und Sichtweisen
In dieser Zeit entwickelten die Bürger auch Fragen, die sie an einem dritten Wochenende den geladenen Experten stellten. Nachdem sie ausführlich Antwort bekommen hatten, zogen sich die Bürger zurück und verfassten gemeinsam ein Votum, das ihre Sicht zum diskutierten Thema darstellte.
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Bürgerkonferenz in Wien
Am 26. und 27. April 2003 beginnt die "BürgerInnenkonferenz Genetische Daten: woher, wohin, wozu?" mit dem ersten Vorbereitungswochenende in Wien. Ende Juni findet im RadioKulturhaus eine öffentliche Konferenz statt, danach wird die von den Laien erarbeitete Stellungnahme zum Thema dem Rat für Forschung und Technologieentwicklung übergeben.
->   Mehr über die Konferenz (17.1.03)
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Teilnehmer bestimmen Richtung
Und diese "ihre Sicht" ist wichtig, denn die Bürgerinnen und Bürger bestimmten, wie sich das Verfahren entwickelte und wie ihre Stellungnahme ausfiel. Weder die Organisatoren noch die Experten konnten hineinreden.

Die Experten konnten allenfalls während der Anhörung um ihren Standpunkt werben. In Dresden entstand so am dritten Wochenende ein neunseitiges Bürgervotum zur Gendiagnostik.
Das Bürgervotum
Im Bürgervotum nahmen die Bürgerinnen und Bürger zu den drei Teilbereichen der Gendiagnostik Stellung: zu Gentests in der Gesundheitsvorsorge, zur Präimplantationsdiagnostik (PID) und zur pränatalen Diagnostik (PND).
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Ursprung in Dänemark
Das Verfahren der Bürgerkonferenz kommt ursprünglich aus Dänemark und wird dort unter dem Namen Konsensuskonferenz speziell im Rahmen von Technikfolgenabschätzungen eingesetzt. Das Besondere an dieser Methode ist die aktive Einbindung von Laien in die Diskussion und Bewertung von aktuellen, gesellschaftlichen Themen aus dem Bereich Wissenschaft und Technik.

In den letzten Jahren fanden in Dänemark Konsensuskonferenzen zu einer Vielzahl kontrovers diskutierter Themen aus den Bereichen Gentechnik, Luftverschmutzung, Verkehr oder Teleworking statt. Die Methode fand viele Nachahmer im Ausland.
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Gentests: Umfassende Beratung, freie Entscheidung
In ihrer Stellungnahme zu Gentests in der Gesundheitsvorsorge (prädiktive Diagnostik) betonte die Bürgergruppe, dass Tests nur nach einer freien Entscheidung der Betroffenen und einer umfassenden Beratung durchgeführt werden sollen.

Weder Staat, noch Arbeitgeber oder Versicherungen sollten Tests veranlassen bzw. ohne Einwilligung der Betroffenen nutzen dürfen.
PID: Hohes Missbrauchspotenzial
Die Einführung der PID wurde von der Mehrheit der Bürgergruppe abgelehnt. Interessanterweise stimmten alle zehn Frauen (und ein Mann) gegen die PID und nur Männer für die PID.

Die ablehnende Haltung wurde mit dem hohen Missbrauchspotenzial dieser Technik begründet und den negativen Folgen, die ihre Einführung für die Integration behinderten Lebens haben könnte.

Die (männlichen) Befürworter der PID begründeten ihr Votum mit der in Deutschland geltenden Abtreibungsregelung sowie mit ihrer Auffassung, dass genetisch stark belastete Elternpaare auch ein Recht auf eigene Kinder haben.
Pränatale Diagnostik: Wachsender gesellschaftlicher Druck
In ihrer Stellungnahme zur pränatalen Diagnostik beklagten die Bürgerinnen und Bürger ihre Ausweitung in den letzten Jahren. Als Gründe dafür wurden mangelnde Aufklärung der Frauen sowie der wachsende gesellschaftliche Druck angeführt, mit einem Kind ein "Qualitätsprodukt" abzuliefern.

In der Verbesserung der vorgeburtlichen Beratung sowie in praktischen Maßnahmen, die ein Miteinander behinderten und nicht behinderten Lebens fördern, wurde die Chance gesehen, einen Rückgang der Zahl der Abtreibungen nach PND zu erreichen.
Demokratiepolitisch positives Resumee ...
Gemessen an den Zielen der Veranstalter lassen sich aus den Erfahrungen der Bürgerkonferenz in Dresden folgende Schlüsse ziehen.

Diese Art der Bürgerbeteiligung in der Technikbewertung kann bei einem Teil der Bevölkerung Informationsdefizite abbauen und die von Experten besetzte Diskussionskultur durch einen qualifizierten Beitrag von Laien ergänzen.

Bürgerkonferenzen sind in der Lage, die Auseinandersetzung mit einem gesellschaftlich umstrittenen Thema und den Dialog zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit zu fördern.
... strukturell Einbindung in Politik wäre aber nötig
Sie könnten aber noch mehr bringen, wenn man ihnen mehr Aufmerksamkeit in der Politik ermöglichen würde. Geeignet dazu wäre die strukturelle Einbindung von Bürgerbeteiligungsverfahren in Prozesse der Technikfolgenabschätzung nach den Vorbildern der Schweiz und Dänemarks.

In Deutschland würde sich dazu das Büro für Technikfolgenabschätzung anbieten, das direkt beim Deutschen Bundestag angesiedelt ist. Für Österreich ist mir keine regierungs- oder parlamentnahe Institution bekannt, die diese Aufgabe übernehmen könnte.
->   Mehr über die Bürgerkonferenz in Dresden
->   Konsensuskonferenzen (Publiforen) in der Schweiz
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Rene Zimmer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer-Institut Systemtechnik und Innovationsforschung (ISI) in der Abteilung "Innovationen in der Biotechnologie". Sein Gastbeitrag ist eine Zusammenfassung seines Vortrages, den er am 24. April 2003 im Rahmen des FWF-Forums in Wien gehalten hat.
->   FWF-Forum
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->   ISI
->   www.innovatives-oesterreich.at
->   Rat für Forschung und Technologieentwicklung
 
 
 
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01.01.2010