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Jubiläum: 40 Jahre Dokumentationsarchiv (DÖW)  
  Seit seiner Gründung arbeitet das "Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands" (DÖW) daran, Zeugnisse des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus zu sammeln und seiner Opfergruppen zu gedenken. Oft stieß dies in der Öffentlichkeit auf wenig Gegenliebe. Nun feiert das DÖW seinen vierzigsten Geburtstag, Anlass genug für ein vorläufiges Resümee.  
Bei einer Festveranstaltung am Montagabend im Wiener Rathaus wurden DÖW-Gründungsmitglieder geehrt. Prominente Festredner, wie der Vorsitzende der Historikerkommission Clemens Jabloner, betonten die Rolle des DÖW für die Erforschung der Zeitgeschichte in Österreich.
"Einigkeit aller politischen Kräfte"
Der britische Historiker Eric H. Hobsbawm brachte die Grundidee des DÖW im Rahmen der Würdigung von Herbert Steiner, der das Archiv von 1963 bis 1983 geleitet hatte, auf den Punkt.

Sie besteht in der "Einigkeit aller politischen Kräfte gegen den Faschismus", so Hobsbawm. Gelernt wurde diese Einigkeit von Sozialisten, Christlich-Sozialen, Kommunisten und anderen im Exil - im Falle Steiners in London. Gelebt wurde sie trotz aller politischen und weltanschaulichen Differenzen.

In diesem - und nur in diesem - Sinne bezeichnete der Wiener Bürgermeister Michael Häupl in seiner Begrüßung das DÖW als "parteilich" - nämlich "für Freiheit und Demokratie".
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DÖW heute
Im DÖW beschäftigt sind laut Angaben seines wissenschaftlichen Leiters, des Historikers Wolfgang Neugebauer, zur Zeit 15 hauptamtliche Mitarbeiter, dazu kommen bis zu fünf temporäre wissenschaftliche Mitarbeiter und derzeit fünf Zivildiener. Zusätzliche gibt es rund 15 ehrenamtliche Mitarbeiter, Zeitzeugen und ehemalige Widerstandskämpfer. Präsident der Stiftung ist seit heuer der frühere Finanzminister und Stadtrat Rudolf Edlinger. Untergebracht ist das DÖW im Alten Rathaus in der Wiener Innenstadt. Seit seiner Gründung kooperiert das DÖW mit dem Institut für Zeitgeschichte der Uni Wien, Zusammenarbeit gibt es auch mit dem österreichischen Staatsarchiv und Landesarchiven.
->   Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands (DÖW)
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Moralische Instanz mit Startschwierigkeiten
Der Publizist Peter Huemer bezeichnete das DÖW in Anlehnung an Wolfgang Benz, Leiter des Instituts für Antisemitismusforschung der TU Berlin, als "wissenschaftliches Institut und moralische Instanz".

Ein Institut und eine Instanz, die freilich Teilen Österreichs nicht immer Freude bereitet hat. Aus heutiger Sicht seltsam erscheint schon die relativ späte Gründung des DÖW im Jahre 1963 - immerhin 18 Jahre nach dem Kriegsende - durch ehemalige Widerstandskämpfer und Wissenschaftler.
Österreich: Erstes Opfer des Nationalsozialismus?
Dies sei aus der vorherrschenden Logik der Nachkriegszeit zu erklären. Wie die Historiker Wolfgang Neugebauer und Brigitte Bailer-Balanda in ihrem Beitrag zur Festschrift "40 Jahre DÖW" schreiben, dominierte in außenpolitischer Hinsicht etwa die auf der "Moskauer Deklaration" der Alliierten beruhende Einstellung, wonach Österreich das erste Opfer des Nationalsozialismus gewesen war.

Innenpolitisch sei man mit den starken ökonomischen Problemen sowie den Fragen der Kriegsheimkehrer und der Entnazifizierung beschäftigt gewesen. In den 50er Jahren wurden "anstelle von Denkmälern für Widerstandskämpfer und Verfolgte Kriegerdenkmäler für die gefallenen Wehrmachtsangehörigen errichtet und Veteranenverbände gegründet."
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Wolfshaut, Herr Karl und DÖW
Peter Huemer erinnerte an drei Ereignisse zu Beginn der 60er Jahre, die in diesem Sinn für ein "anderes Österreich" gesprochen hätten: die Veröffentlichung des Buches "Die Wolfshaut" von Hans Lebert 1960, die TV-Produktion "Der Herr Karl" von Carl Merz und Helmut Qualtinger 1961 und die Gründung des DÖW 1963.
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Selbstdarstellung gegen die Ignoranz
Widerstandskämpfer wurden laut Neugebauer als "Eidbrecher", "Verräter" und "Mörder" angesehen, der österreichische Widerstand angezweifelt, bagatellisiert oder geleugnet. Die Widerstandsforschung des Archivs entsprang demnach "nicht der vom offiziellen Österreich vertretenen 'Opfertheorie', sondern dem Bemühen um Selbstdarstellung der Widerstandskämpfer und Verfolgten und deren Selbstbehauptung gegen Ignoranz und Verdrängung".
Archivarische und wissenschaftliche Grundlagen ...
In der Anfangsphase des DÖW wurden archivarische und wissenschaftliche Grundlagen geschaffen, auf denen die Widerstandsforschung aufbauen konnte - u.a. die Herausgabe der 13 Bände umfassenden Reihe "Widerstand und Verfolgung in den österreichischen Bundesländern" in den 70er Jahren.
... von Widerstand, Verfolgung, Rechtsextremismus
Neben dem politischen Widerstand thematisierte das DÖW von Beginn an auch alle Formen der Verfolgung im Nationalsozialismus, insbesondere von Juden, Sinti und Roma, später auch von geistig und körperlich Behinderten.

1993 erschien das "Handbuch des österreichischen Rechtsextremismus", mit etwa 20.000 verkauften Exemplaren ein wahrer Bestseller unter wissenschaftlichen Publikationen.

Das Projekt der "Namentlichen Erfassung der österreichischen Holocaustopfer" widmete sich den ca. 62.000 jüdischen Opfern, der mit Abstand größten Opfergruppe des Nationalsozialismus, und wurde 2001 vorläufig abgeschossen.
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Buch-Tipp
DÖW (Hg.): "40 Jahre Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. 1963-2003", 112 Seiten, 5 Euro, ISBN 3-901142-50-9, 5 Euro.
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Noch 40 weitere Jahre für das "alte Europa"
Viel historische Arbeit ist bereits geschehen, vieles bleibt noch zu tun. Eric H. Hobsbawm, der seine Kindheit in Wien verbracht hatte, wünschte dem DÖW dafür noch mindestens "weitere 40 Jahre".

Das, "was manche als das alte Europa bezeichnen, ist nach dem zweiten Weltkrieg auf der Absage an Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus aufgebaut". Nur mit "unwiderlegbaren wissenschaftlichen und historischen Argumenten", wie es u.a. das DÖW bereitgestellt hat, "können wir auch in Zukunft für dieses Europa kämpfen", schloss der Historiker.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at
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01.01.2010