News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Leben .  Wissen und Bildung 
 
Evolution der Sprache: Am Kehlkopf liegt es nicht  
  Nach allgemeiner Übereinkunft ist die komplexe Sprache ein Merkmal, das den Menschen vom restlichen Tierreich abhebt. Dies drückt sich auch durch eine anatomische Besonderheit aus: Der Kehlkopf senkt sich im Laufe der frühen Kindheit ab - und bildet auf diese Weise ein Resonanzsystem aus, welches kontrollierte Vokalisation ermöglicht. Japanische Forscher haben diese Absenkung nun auch bei Schimpansen-Kindern nachgewiesen. Die bisherigen Modelle zur Evolution der Sprache sind daher in Frage gestellt.  
Wie Takeshi Nishimura und seine Mitarbeiter vom Primate Research Institute der Kyoto University vermuten, könnte diese Eigenschaft als Teil eines neuen Schluckmechanismus entstanden sein.

Die geänderte Kehlkopfstellung dürfte jedenfalls bereits bestanden haben, bevor sich die Stammeslinien von Mensch und Schimpanse trennten.
...
"Descent of the larynx in chimpanzee infants"
Die Studie "Descent of the larynx in chimpanzee infants" von Takeshi Nishimura, Akichika Mikami, Juri Suzuki und Tetsuro Matsuzawa erschien als Online-Vorabpublikation der "Proceedings of the National Academy of Sciences" (PNAS) und wird in Zukunft unter dem DOI 10.1073/pnas.1231107100 abrufbar sein.
->   PNAS
...
Affe und Mensch: Die Genetik macht kaum Unterschiede ...
Wer nach biologischen Unterschieden zwischen dem Menschen und seinen nächsten Verwandten sucht, sollte nicht auf genetische Merkmale fixiert sein: Laut einer jüngst veröffentlichten Studie sind die Unterschiede im Erbgut von Mensch und Affe so gering, dass der Schimpanse eigentlich mit dem Gattungsnamen "Homo" geadelt werden müsste.
->   Der Schimpanse ist ein Mensch - zumindest genetisch
... aber immerhin die Sprache
Aber zum Glück bleibt da noch die einzigartige Sprachfähigkeit, welche den Menschen über das restliche Tierreich erhebt - so zumindest die anthropozentrische Ansicht. Evolutionäre Voraussetzungen für die Entstehung der Sprache gibt es jedenfalls viele:

Der entsprechende soziale Kontext, die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten, eine willentliche Kontrolle der Atmung sowie der Zunge - und nicht zuletzt die anatomischen Voraussetzungen für die Lauterzeugung.
Anatomische Besonderheit als Anpassung
Letztere werden beim Menschen durch einen Entwicklungsschritt in der frühesten Jugend geschaffen: Was die Stellung des Zungenbeins und des Kehlkopfes betrifft, unterscheidet sich das menschliche Neugeborene nämlich kaum von anderen Säugetieren. Erst in den ersten Lebensjahren senken sich diese ab, was zur Ausbildung eines doppelten Resonanzkörpers führt.

Nach der gängigen Lehrmeinung ist diese Eigenheit - im Verbund mit Kieferstellung und Neigung der Schädelbasis - als evolutionäre Anpassung an die Bedürfnisse einer sich (proto-)sprachlich verständigenden Spezies zu werten.

Weiterhin ging man bisher davon aus, dass sich dieses Merkmalsmosaik erst in der Stammeslinie des Menschen herausgebildet habe.
Kehlkopfsenkung: Auch bei Affen
Diese Ansicht ist nach den Forschungsergebnissen von Takeshi Nishimura und seinen Mitarbeitern korrigierungsbedürftig.

Sie untersuchten drei Schimpansen während ihrer ersten drei Lebensjahre mit einem Computertomographen und machten dabei eine überraschende Feststellung: Die Jungaffen wiesen im Lauf ihrer Entwicklung ebenfalls eine ausgeprägte Kehlkopfsenkung auf.

 
Bild: PNAS

Die Jung-Affen im computertomographischen Querschnittbild.
Neues Evolutionsmodell
Nach Ansicht der japanischen Primatenforscher muss daher von einem Zwei-Stufen-Modell der Kehlkopfsenkung ausgegangen werden. Der erste Schritt: Zunächst senkte sich der Kehlkopf relativ zum Zungenbein.

Eine Errungenschaft, die offensichtlich bereits auftrat, als die Linien von Mensch und Schimpanse noch nicht getrennt waren. Nishimura und seine Mitarbeiter spekulieren, dass sich diese Neuerung im Zuge eines neuartigen Schluckmechanismus herausgebildet haben könnte.
Letzte humane Besonderheit: Das Zungenbein
Zumindest der zweite Schritt dürfte dann auf die Vorläufer von Homo sapiens beschränkt gewesen sein: Hier senkte sich das Zungenbein - und zwar relativ zum Kiefer und zur Schädelbasis.

Letzteres sollte schließlich zu einer weiteren Herausbildung komplexer Vokalisation geführt haben - die biologische Besonderheit des Menschen scheint also noch einmal gerettet.

Robert Czepel, science.ORF.at
->   Primate Research Institute der Kyoto University
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at
->   Wie das Gehirn Inhalt und Form von Sprache verarbeitet
->   Studie zum Zweitspracherwerb: Je früher desto besser
->   Die molekulare Evolution des "Sprach-Gens"
->   Sprunghafte Entstehung der Sprache?
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Leben .  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010