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"Hannibal-Lectures": Einblick in psychopathische Gedankenwelten  
  Psychopathische Mörder sind interessante, aber auch ambivalente Studienobjekte für die Wissenschaft. Das Problem bei der Untersuchung ihrer Gedankenwelt liegt in der häufig ausgeprägten Fähigkeit, Motive zu verbergen. Britische Psychologen haben nun einen Weg gefunden, mittels eines Assoziations-Tests Einblick in das Seelenleben der Gewalttäter zu nehmen. Das wenig überraschende Ergebnis: Psychopathische Mörder haben - im Vergleich zu anderen Kriminellen - Schwierigkeiten, Gewalt als negativ zu bewerten.  
Dies unterscheidet sie z.B. von "gewöhnlichen" Mördern sowie von Psychopathen, die nicht zur Gewaltanwendung neigen. Der von Nicola Gray und ihrem Team von der Cardiff University angewandte Test könnte in Hinkunft zur Unterscheidung dieser Personengruppen eingesetzt werden.
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Die Studie "Violence viewed by psychopathic murderers" von Nicola S. Gray, Malcolm J. MacCulloch, Jennifer Smith, Mark Morris und Robert J. Snowden erschien in der Zeitschrift "Nature" (Band 423, S. 497-98, Ausgabe vom 29. Mai 2003).
->   Nature
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Problem: Psychopathische Mörder verbergen Emotionen
Psychopathische Mörder werden oft als kaltblütig, gefühlskalt und erbarmungslos beschrieben - dem steht jedoch die Beobachtung gegenüber, dass sie es oft meisterhaft verstehen, ihre emotionalen Defizite zu verbergen.

Ziel einer psychologischen Untersuchung dieser ambivalenten Studienobjekte muss es daher sein, diese Hürde der Tarnung zu umgehen.
Blick in die Seele mittels neurartigen Testverfahrens
Eine Möglichkeit, in das Seelenleben besagter Gewalttäter vorzudringen, ist der so genannte "Implizite Assoziationstest" (IAT), wie Nicola Gray und ihre Mitarbeiter in ihrer aktuellen "Nature"-Publikation berichten. Ursprünglich wurde der Test entwickelt, um sozial stigmatisierte Überzeugungen sichtbar zu machen.

So wurde IAT bereits erfolgreich für die Quantifizierung von Einstellungen verwendet, die Menschen zu verbergen trachten. Beispiele dafür sind etwa negative Ansichten gegenüber dickleibigen Menschen, solchen besonderer ethnischer Herkunft oder auch homosexueller Orientierung.
Reaktionszeiten legen implizite Assoziationen frei
Der 1998 von dem amerikanischen Psychologen Anthony G. Greenwald kreierte IA-Test basiert im Wesentlichen auf der einfachen Annahme, dass es leichter ist, auf zwei stark assoziierte Reize schnell zu reagieren als etwa bei weniger stark assoziierten Reizen.

So ist man beispielsweise schneller, wenn man im Experiment "Kombinationen von Gesichtern und Vornamen gleichen Geschlechts" mit Druck auf eine Taste quittieren muss als dies bei ungleichsinnigen Kombinationen der Fall ist.

Ursprünglich wurde dieses Prinzip benutzt, um die Stärke von Stereotypen zu messen. In letzter Zeit findet es aber immer häufigere Verwendung in der Einstellungsforschung und in der Persönlichkeitspsychologie.
->   Mehr Infos auf der Homepage von A.G. Greenwald (Univ. Washington)
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Das experimentelle Design
Gray und ihre Mitarbeiter verwendeten folgendes experimentelles Verfahren: Wörter in Großschrift (z.B. "UGLY") wurden als "pleasant" bzw. "unpleasant" eingestuft, kleingeschriebene Wörter (zb. "kill") als "violent" oder "peaceful" klassifiziert. Dabei ergeben sich zwei Kombinationsmöglichkeiten: gleichlautende Einstufungen (z.B. pleasant/peaceful) und solche, die einander widersprechen. Der IAT-Effekt berechnet sich nun aus der Differenz der Reaktionszeiten der beiden Kombinationen - und soll so Zugang zu impliziten Assoziationsmustern freilegen.
->   IAT als Online-Test (Harvard University)
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Vier Gruppen von Straftätern untersucht
Die britischen Psychologen untersuchten 121 Straftäter, die in vier Gruppen geteilt wurden: und zwar Mörder sowie gewöhnliche Kriminelle mit jeweils hoher bzw. niedriger Psychopathie-Neigung. Das Ergebnis: Bei psychopathischen Mördern war ein besonders niedriger IAT-Effekt nachzuweisen.

Mit anderen Worten: Während gewöhnliche Menschen länger überlegen müssen, um etwa Wörter wie "Blut" oder "Frieden" mit einem Knopfdruck einzuordnen, entscheiden sich psychopathische Serienmörder unbewusst rascher - und die kürzere Denkpause entlarvt sie:

"Bei psychopathischen Mördern macht es beinahe keinen Unterschied, ob die 'gewalttätigen' Wörter mit den 'angenehmen' oder den 'unangenehmen' gemischt sind - sie sind genauso schnell", sagte Mit-Autor Robert Snowden gegenüber der Nachrichtenagentur AFP.
"Erster kognitiver Nachweis"
Dies sei, so die Interpretation der Autoren, vor allem auf deren abnormale Überzeugungen bezüglich Gewalt zurückzuführen - und weniger auf unspezifische Einflüsse, wie etwa mangelhafte Beherrschung oder Entscheidungsfähigkeit.

Im Vergleich zu den anderen Untersuchungsgruppen bedeutet das: Mörder mit hohen Psychopathie-Werten reagieren besonders selten negativ, wenn sie mit Gewalt konfrontiert werden.

Nach Ansicht von Gray und ihrem Team ist das "der erste kognitive Nachweis von abnormen sozialen Einstellungen bei psychopathischen Mördern". Die Psychologen hoffen, dass der angewandte Test in Hinkunft zur Identifikation von solchen Personen führen könnte, die ein besonders hohes Gewaltpotenzial aufweisen.
->   Homepage von Nicola Gray
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at
->   Wie Kinder das Erleben von Gewalt verarbeiten
->   Im Gehirn eines Killers
->   Psychoanalyse im Dialog der Wissenschaften
->   Der direkte Blick ins Gehirn
 
 
 
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01.01.2010