News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 
Wie kann man Wissenschaftstexte verständlicher machen?  
  Das britische Journal "Nature" zählt seit seiner Ersterscheinung 1869 nicht nur zu den bedeutendsten Wissenschaftsmagazinen der Welt, immer wieder macht es sich auch um eine Meta-Kritik des eigenen Tuns verdient. So auch im Rahmen eines aktuellen Features, das der Frage nachging, warum wissenschaftliche Texte so schwierig zu lesen sind - und was man tun kann, um die Verständlichkeit zu erhöhen.  
Francis Crick: "Nichts ist ermüdender"
Die einleitende These von Francis Crick, dem Mitentdecker der DNA: "Es gibt keine Textform, die schwieriger zu verstehen und ermüdender zu lesen ist, als das durchschnittliche Wissenschafts-Paper".

Dass diese Unverständlichkeit kein notwendiges Schicksal darstellt, beweise schon der Umstand, dass sie in den letzten 50 Jahren dramatisch angewachsen ist. Verantwortlich dafür sei u.a. die verstärkte Aufsplitterung der Wissenschaften in Fachbereiche und Subdisziplinen - jede mit einem eigenen Vokabular und Jargon, schreibt der Wissenschaftsjournalist Jonathan Knight in "Nature".
Der Original-Artikel von Jonathan Knight ist unter dem Titel "Clear as mud" in "Nature" (Bd. 422, S. 376-378, Ausgabe vom 22. Mai 2003) erschienen.
->   Zum Artikel (kostenpflichtig)
Molekularbiologen besonders schwierig
Besonders "schlimm" sei es bei den Disziplinen der Molekularbiologie. Die stets wachsende Zahl entdeckter Proteine, die auf klingende Namen wie "Tir Nan Og", "DHFR-TS" oder "Bassoon" hören, um nur einige der zuletzt in science.ORF.at beschriebenen zu nennen, machen vor allem Zeitschriften wie "Cell" zu einer echten Herausforderung für jeden Leser.

Etwas leichter verständlich scheinen dafür Journals, die sich z.B. mit Erdwissenschaften beschäftigen - "Vulkane" oder "Eisberge" gehören eher zum durchschnittlichen Wortschatz.
Versuche gegenzusteuern
Ein Versuch der großen Journals, dagegen etwas zu unternehmen, sind die Kurz-Zusammenfassungen zu Beginn jedes Artikels, die - idealerweise - in einfacherer Sprache das danach folgende vorwegnehmen.

Ein Unterfangen, das nicht nur für Journalisten Erleichterung verspricht, sondern auch für Wissenschaftler anderer, benachbarter Wissensgebiete den Einstieg erleichtern soll.
Quantifizierung von Lesbarkeit
Die Lesbarkeit eines Texts zu quantifizieren, ist nicht gerade leicht. Dennoch gibt es mehrere Versuche, diese "readability" objektiv zu messen, wie Jonathan Knight in seinem Artikel ausführt. Eine davon schlummert - von den meisten Benutzern unentdeckt - im am meisten verbreiteten Textverarbeitungsprogramm der Welt, "Microsoft Word".

Der Name des Sub-Programms: "Flesch Reading Ease scale". Sein Inhalt: die Messung der durchschnittlichen Länge von Worten und Sätzen, die auf die Jahre der Bildung schließen lassen, die für das Verständnis des Texts vonnöten sind.
...
Flesch-Lesbarkeits- und Verständlichkeitsgrad
Der "Flesch-Lesbarkeitsgrad", wie er auf Deutsch heißt, misst den Schwierigkeitsgrad eines Text-Dokuments. Die Bewertung erfolgt anhand der durchschnittlichen Anzahl von Silben pro Wort sowie Wörtern pro Satz. Ein Text kann nach einem Punktesystem maximal 100 Punkte erreichen, je höher die Punktzahl, desto verständlicher ist das Dokument (Standarddokumente: 60 bis 70 Punkte).

Der "Flesch-Kincaid-Verständlichkeitsgrad" bewertet einen Text nach einem bestimmten Schulniveau. Ein Ergebnis von 8,0 bedeutet zum Beispiel, dass das Dokument für einen Schüler der achten Klasse verständlich ist. Standarddokumente sollten einen Wert von etwa 7,0 bis 8,0 erreichen.
->   Mehr über die beiden Test-Formen
...
Lexikalische Methode: Reihung von Worten nach Häufigkeit
Offensichtlich sagt diese Mess-Methode über die Lesbarkeit wissenschaftlicher Texte aber noch nicht allzuviel aus - es gibt auch sehr kurze Sätze, die vor allem aus wenig bekannten Fachvokabeln bestehen, und umgekehrt lange Sätze, die sehr konzise geschrieben sind.

Deshalb stellt Jonathan Knight in seinem "Nature"-Bericht die Bewertungsmethode des Soziologieprofessors Donald Hayes vor. Dieser hat schon vor mehr als 20 Jahren das System "LEX" ersonnen, das die lexikalische Schwierigkeit eines Texts misst und quantifiziert.

Als Grundlage verwendet er ein amerikanisches Wörterbuch, dessen knapp 90.000 Worte er hinsichtlich ihres Vorkommens in ausgesuchten Romanen, Magazinen und Enzyklopädien reihte.
...
Weit hinten: Bakterium und Neuron
Zwei Beispiele aus der Welt der Wissenschaft: "Bakterium" befindet sich in dieser Rangliste auf Rang 3.546, Neuron auf Platz 23.595. Die meisten wissenschaftlichen Fachausdrücke befinden sich nicht auf der Liste, da sie dementsprechend selten verwendet werden.
...
Unterschiede zwischen Müttern, Zeitungen und "Nature"
Und das sind laut Knight einige Ergebnisse der LEX-Skala: Während eine Mutter, die mit ihren Kindern spricht, etwa 70 Prozent ihrer Worte aus den 1.000 am häufigsten verwendeten bezieht, sind das bei einer Tageszeitung rund 40 Prozent und bei einer "Nature"-Studie 20 Prozent.
Was tun?
Was also lässt sich tun, um der fortschreitenden "Balkanisierung der Wissenschaften" (Jonathan Knight) und ihrer Jargons zu begegnen?

Neben den einführenden Summaries in den Journalen werden begleitende Kommentare von Wissenschaftsjournalisten immer wichtiger, die den Bedeutungsrahmen der Studien erfassen und sich einer einfacheren Sprache bedienen. Und im Internet: die Möglichkeit vertiefender und weiterführender Links, deren Inhalte die auftauchenden Fragen beantworten können.
Geändertes Schreibverhalten ...
Aber, so der "Nature"-Bericht, dies alleine helfe nicht aus. Mindestens ebenso wichtig sei das Schreibverhalten der Forscher selbst. Dabei besonders wichtig: die Einhaltung grundlegender - aus dem Journalismus stammender - Regeln (z.B. Subjekt und Objekt eines Satzes sollten nicht durch allzu viele Worte getrennt sein, die Sätze sollten sich eindeutig aufeinander beziehen).
... das erst gelernt sein will
Dieses, das klare Schreiben, muss aber auch gelernt sein. Entsprechende Angebote existieren in den USA zwar teilweise, aber nicht in dem erforderlichen Umfang. (Über Europa legt Jonathan Knight, aus San Francisco für "Nature" schreibend, einen Mantel des Schweigens.)

Mittlerweile aber beginne sich eine Dienstleistungsbranche zu entwickeln, die Wissenschaftlern beim Schreiben ihrer Texte hilft, so Knight. Etwa das Unternehmen "Exact Science Communications" in Arizona, das Manuskripte sprachlich korrigiert, noch ehe sie bei Wissenschaftsjournalen eingereicht werden.

Hauptkunden seien hier Nicht-Englischsprechende Forscher, die ihre Chancen auf eine Publikation in der angelsächsischen Welt der Wissenschaft erhöhen wollen.
Keine Patentrezepte
Fazit laut Knight: Patenrezepte für eine bessere Verständlichkeit wissenschaftlicher Texte gibt es keine, bloß eine Summe einzelner Maßnahmen.

Übrigens: Nach dem - zugegeben wenig hilfreichen - Flesch-Lesbarkeitsgrad kommt dieser Text auf 14 Punkte. Danke, dass Sie bis hierher durchgehalten haben.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at
->   Exact Science Communications
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010