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Buchkultur Adieu? Die Zukunft des Wissens  
  Unter Bedingungen von Online-Medien zeichnet sich eine grundlegende Umstrukturierung der Wissenskultur ab. Es entstehen Wissensportale, neue Nutzungsmöglichkeiten für Datenbanken und damit nicht zuletzt neue Arbeitsformen für Wissenschaft und Forschung. Zum Tag der Neuen Medien an der Universität Wien am Montag geht der Medientheoretiker Frank Hartmann der Frage nach, wie sich dadurch die Produktion von Wissen ändern wird - und ob der Buchkultur nun endgültig "Adieu" gesagt werden muss.  
Wissensproduktion und Neue Medien
Von Frank Hartmann

Zwar gilt als ausgemacht, dass das Internet zur Umstrukturierung der Lehr- und Lerngewohnheiten beiträgt. In der akademischen Praxis bedient man sich der neuen Möglichkeiten hingegen eher vorsichtig: Die wenigsten Lehrenden zeigen Online-Präsenz oder wickeln Projekte übers Internet ab - und das, obwohl Programmierkenntnisse dafür heutzutage nicht mehr ausschlaggebend sind.

Da und dort werden die guten alten Overhead-Folien durch Powerpoint-Präsentationen ersetzt. Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften scheint es jedoch, als ob die "Humanities", also Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften insgesamt sich nur sehr zögerlich dem neuen technologischen Potenzial zuwenden.
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Humanities: Ansprüche formulieren!
"Welche Ansprüche und Anforderungen werden von den Humanities - und eben nicht von den Sciences - an diese neuen Technologien herangetragen? Dabei geht es nicht allein um den Einsatz praktischer Tools, sondern auch um eine gesellschaftliche und methodologische Reflexion der Informationstechnologien in ihrem jeweiligen Kontext. Und das leisten naturgemäß nicht die Informatiker und Programmierer, sondern das wäre die Aufgabe der Humanities. Sie sollten es sein, die ihre Ansprüche an die Technik zu formulieren und explizit zu machen hätten."

Harald Riedmann, Soziologe, Vienna Knowledge Net
->   Vienna Knowledge Net
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Neue Wissensarchitektur gegen monolithische Buchkultur
Mit den Online-Technologien formiert sich eine neue Wissensarchitektur, die vor allem das flexibilisiert, was sich in den vergangenen zweihundert Jahren als monolithische Buchkultur durchgesetzt hat. Kennzeichen dafür sind:

- Die zunehmende Automatisierung in der Verwaltung und Generierung von Wissensbeständen (erweiterte Anwendung von "agent technology", wie sie derzeit meist bei Suchmaschinen zum Einsatz kommt).

- Semantisch integrierte Datenstrukturen, die in eine Web-Zukunft der nächsten Generation weisen ("semantic web", was im wesentlichen bedeutet, dass tendenziell alle Webinhalte maschinenlesbar werden).

- Kollaborative Arbeitsplattformen, die neue Lern- und Wissensformen generieren ("e-learning", weiter virtuelle, vernetzte Arbeitsplätze und so genannte "knowledge-sharing communities").
Aktuelle Prozesse nicht mit alten Brillen sehen
Nicht einfach unsere Medien, sondern die kulturellen Kommunikationsformen ändern sich. Das Verstehen der neuen Wissensorganisation ist deshalb außerhalb eines größeren historischen Zusammenhangs schwer möglich.

Eine Gefahr der ungenutzten Chancen liegt darin, so der Erfurter Literatur- und Medienwissenschaftler Michael Giesecke, die neuen kulturellen Prozesse durch die alte Brille der überkommenen Erkenntnistheorie und der traditionellen Werte zu sehen.
Innovationspotenzial nutzen
Die kritische Aufgabe besteht darin, das Innovationspotenzial der neuen Online-Medien ausfindig zu machen und zu nutzen.

Der Weg, den Giesecke dazu gewählt hat, führt über die historische Fallstudie des Buchdrucks in der frühen Neuzeit, interpretiert unter informationstheoretischen Gesichtspunkten.
Wissenschaft orientiert sich zu stark an Buchkultur
Giesecke argumentiert, dass die Ausbreitung alternativer Formen kultureller Informationsverarbeitung gegenwärtig dadurch erschwert ist, dass auch der wissenschaftliche Mainstream sich immer noch an Idealen und Konzepten der Buchkultur orientiert.

Der Erfolg eines Modells führ zu Mystifizierungen, die sich hartnäckig halten.
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Mythen der Buchkultur
Zu den Mythen der Buchkultur zählt Giesecke unter anderem:
- die Autorschaft oder die Idee, dass jedes Buch (nur) einen Schöpfer habe
- die Mystifikation der privilegierten Erziehung und Bildung durch Bücher, die vergessen macht, welcher sozialen Gewalt sich die Durchsetzung der Lesekultur und die "Gleichschaltung der Köpfe" verdankt.
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Heute andere Herausforderungen durch ...
Die Leistungen der Buchkultur sind unbestritten, weisen aber durchaus ambivalente Züge auf. Vor allem tragen sie zur Lösung von Problemen bei, die ganz andere sind als jene, die in der Gegenwartskultur anstehen.

Die typografischen Medien und Programme sind in den Zusammenhang der Industriegesellschaft zu stellen und die Buchkultur wäre als ein Informationstypus zu begreifen, der nun durch neue Formen konkurrenziert abgelöst wird. Diese Formen sind vor allem durch mehr Interaktivität und stärker technisch gestützte Rückkopplungsprozesse geprägt.
... rückkopplungsintensive und riskantere Kommunikation
Vor allem Europa hat hier ein Problem, denn anders als in Amerika und vielen asiatischen Ländern konnten Konzepte der Buchkultur einen historischen Alleinvertretungsanspruch durchsetzen, den sie nicht überall hatten.

"Zumal das Geburtsland von Gutenberg, das seine Erfindungen besonders gründlich nutzte und von deren Segnungen besonders stark profitierte, mag sich auf rückkopplungsintensive und damit riskantere Kommunikationsformen nur ungern einlassen." (Michael Giesecke)
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Veranstaltung in Wien: 16. Juni, 18 Uhr
Welchen Einfluss haben Neue Medien nicht nur auf die Verteilung und den Zugang, sondern auf die Produktion von Wissen? Anlässlich der Präsentation seiner Internet-Datenbank zur österreichischen Wissenschaftsemigration (Science Exile) lädt im Rahmenprogramm des Tags der Neuen Medien an der Universität Wien der Forschungsverein "Vienna Knowledge Net" zur Diskussion der mit Wissen und Online-Medien verbundenen Fragen ein.

Gast ist einer der profiliertesten Kritiker der "Mythen der Buchkultur", Michael Giesecke (Universität Erfurt, Vergleichende Literaturwissenschaft und Medien).
Zeit: Montag 16. Juni, 18 Uhr
Ort: Aula im Universitätscampus, Altes AKH, Hof 1, 1090 Wien, Spitalgasse 2-4
->   Science Exile
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Vision: Ökologisches Zusammenwirken vieler Medien
Zukunft braucht eine Vision. Das Problem ist laut Giesecke vor allem die Mono-Medialität. Dabei lässt sich nicht ein Medium durch das nächste ablösen - nun einfach "digitale Kultur" statt "Buchkultur" zu setzen, wäre verfehlt, denn es geht nicht ums einzelne Medium:

"Es geht darum, den Wiederholungszwang zu durchbrechen und nicht wieder eine einzelnes Medium - und sei es auch noch so komplex wie die digitale Datenverarbeitung und das Internet - zur Wunschmaschine zu erklären. Die Vision kann nicht in einem einzelnen Medium, sondern sie muss im ökologischen Zusammenwirken vieler Medien gesucht werden."
->   Homepage Frank Hartmann zu Medienphilosophie
->   Michael Giesecke
Der Buchdruck in der frühen Neuzeit - Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1991:
->   Leseprobe
Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft - Trendforschungen zur historischen Medienökologie. Frankfurt/Main (Suhrkamp) 2002:
->   Webseite zum Buch
Weitere Gastbeiträge von Frank Hartmann in science.ORF.at:
->   Definitionsversuche zur "Medienphilosophie" (4.2.03)
->   Bildersprache als neue Wissenskultur (9.12.02)
 
 
 
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01.01.2010