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Paul Ricoeur über Vergangenheitsbewältigung  
  Der französische Philosoph Paul Ricoeur hält den Umgang der Europäer mit den schwierigen Kapiteln ihrer Vergangenheit für bewundernswert.  
Während die jüngste Vergangenheit in Kulturen wie Japan oder China immer noch ein Tabuthema sei, habe er "volle Bewunderung für die Arbeit, die die Europäer zur Bewältigung ihrer Vergangenheit geleistet haben", sagte er in einem Interview mit der APA.

"Die europäische Kultur, die von der Renaissance geprägt ist, hat zu einem hohen Niveau der Diskussion und der Presse beigetragen", erklärte der französische Philosoph, der den Eröffnungsvortrag des vom Institut für die Wissenschaft vom Menschen (IWM) organisierten Symposiums zum Thema "Gedächnis des Jahrhunderts" hielt.
Vertrauen in eine künftige Geschichtsinterpretation

Paul Ricoeur
Auf die Frage, ob die im Vorjahr verhängten EU-Sanktionen den Prozess der Vergangenheitsbewältigung in Österreich - etwa durch die Regelung für Zwangsarbeiter - gefördert hätten, meinte Ricoeur ausweichend, dies sei eine Frage, die alleine die Österreicher beantworten könnten. Er strich dann aber demonstrativ "die positive Leistung Deutschlands im Umgang mit der Nazi-Vergangenheit" hervor.

"Das Schwierige" im Umgang mit der jüngsten Geschichte sei der Widerspruch zwischen Zeugenaussagen der Überlebenden und den geschriebenen Dokumenten. Es gehe darum, diese beiden zu kombinieren und auszugleichen.

"Man muss die Diskussionsregeln beherrschen", erklärte Ricoeur. "Ein Philosoph braucht die Fähigkeit, die Argumente der Gegenseite anzuhören", man müsse auch akzeptieren, dass es unvereinbare Seiten gäbe. Derzeit müsse man "im Widerspruch leben", doch könne man Vertrauen in eine künftige Geschichtsinterpretation haben, die nicht mehr so stark die Emotionen berühren werde.
Auch unversöhnliche Meinungsverschiedenheiten gut für die Demokratie
In der öffentlichen Diskussion müsse man jene Qualität wahren, die die großen Kriegsverbrecherprozesse wie Nürnberg oder Tokio geprägt habe, so dass die öffentliche Meinung gleichsam "den Prozess aufrechterhält". In Nürnberg sei den Angeklagten jenes Recht auf Verteidigung eingeräumt worden, welches sie ihren Opfern nicht zugestanden hätten.

"Ich glaube, dass es gut für die Demokratie ist, wenn es Meinungsverschiedenheit gibt, auch unversöhnliche Meinungsverschiedenheiten", meinte Ricoeur.
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Ein Riegel vor der Wahrheitsfindung
Der Unabhängigkeitskrieg Algeriens sei heute in Frankreich kein Tabu mehr. Es gebe aber Schlimmeres, erklärte Ricoeur, "nämlich Amnestiegesetze, die es sowohl auf französischer als auch algerischer Seite gab und die auf juristischer Ebene die Verfolgung (von Verbrechen) einstellten". Täter könnten deshalb nicht mehr schuldig gesprochen werden, der Wahrheitsfindung sei ein Riegel vorgeschoben worden.
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Problem: Lange Sperrfrist der Archive
Ein anderes von der Öffentlichkeit oft verkanntes Problem sei die lange Sperrfrist für Archive, die 50 oder auch mehr Jahre betrage. "Das ist aber ein weltweites Phänomen, also nicht auf Algerien beschränkt. Es gibt auch Probleme beim Zugang zu den Stasi-Archiven und zu Archiven in Polen, Bulgarien und Tschechien."
Gefahr der Unterschiedlichkeiten
Die derzeit stattfindende Immigration nach Europa könne auch von der philosophischen Seite betrachtet werden, "weil wir alle mal nach Europa gekommen sind". Heute bestehe das Problem darin, "dass wir unterschiedliche Toleranzschwellen haben, die von Land zu Land, von Person zu Person variieren".

Das Problem bestehe darin, dass wir "in Unterschiedlichkeiten eine Gefahr sehen". Man müsse die ausgewogene Migrationspolitik, wie sie derzeit in Europa bestehe, aufrechterhalten, meinte Ricoeur in Anspielung auf die Forderungen nach einer restriktiveren Haltung gegenüber Immigranten. Der Philosoph bedauerte jedenfalls das Fehlen einer einheitlichen EU-Immigrationspolitik.
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Paul Ricoeur
Paul Ricoeur gehört zu den namhaftesten Philosophen der Gegenwart. Er wurde 1913 geboren und lehrt heute in Paris und Chicago. Er schrieb Beiträge zur Philosophiegeschichte, zur Phänomenologie sowie zur psychoanalytischen Theorie der Interpretation. 1990 wurde Ricoeur mit dem Karl-Jaspers-Preis der Stadt Heidelberg ausgezeichnet. Er erhielt die Auszeichnung für sein religions- und kulturphilosophisches Werk und seiner Beiträge zur interpretierenden Philosophie.
->   Über Paul Ricoers Philosophie
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01.01.2010