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Geisteswissenschaften so wichtig wie nie  
  Nach der Entzifferung des menschlichen Genoms werden die Geisteswissenschaften so wichtig wie noch nie zuvor. Das prophezeite der Präsident des Deutschen Hochschulverbands, Hartmut Schiedermair (Universität Köln) unlängst auf einer Tagung über die Zukunft der Geisteswissenschaften in Frankfurt.  
"Nur sie wissen die Antwort auf die Frage 'Was ist der Mensch?'", so Schiedermair.
Totale Herrschaft über die Menschen
Mit der Entschlüsselung des Erbgutes sei die Menschheit in ein Zeitalter der Machbarkeit und der "totalen Herrschaft des Menschen über den Menschen" eingetreten, meint Schiedermair.

Das ziehe Fragen von ungeheurer Bedeutung nach sich: Was dürfen wir, und was nicht? Dürfen wir Embryonen nach ihren Erbanlagen sortieren? Dürfen wir eine zukünftige Krankheit mittels Gen-Chip voraussagen?

Weder Naturwissenschaften noch Technik könnten darauf eine Antwort geben. "Je moderner die Welt, desto wichtiger werden die Geisteswissenschaften", folgerte er in Anlehnung an den Philosophen Odo Marquard.
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Gegensätzlichkeit beider Systeme verschärft
Gerade die "gut gemeinte" These Marquards, die Geisteswissenschaften füllten das Sinn-Defizit der Naturwissenschaften, findet Ludger Honnefelder (Universität Bonn) fatal. Eine solche Auffassung verschärfe die Gegensätzlichkeit der beiden Systeme und befördere ihre Verselbständigung. "Die Kluft zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften hat sich erheblich vertieft", meinte der Philosoph.
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"Gesprächspartner" der Naturwissenschaften
Honnefelders Diagnose: Den geisteswissenschaftlichen Fakultäten mangele es an Gesprächsfähigkeit. Sie seien zu sehr in ihre eigenen Debatten verstrickt. Schon innerhalb der geisteswissenschaftlichen Disziplinen gebe es kaum einen Dialog.

Umso weniger gelinge es, seine Stimme in so komplizierten Fragen wie die der Genforschung zu erheben. Wenn die Geisteswissenschaften ihren Beitrag leisten wollten zu einer sozialen Welt, müssten sie "Gesprächsparter" der Naturwissenschaften werden, forderte er. "Leitwissenschaft wird man durch Gesprächsfähigkeit. Und Gesprächsfähigkeit erwirbt man durch Kompetenz."
Geistiger und ethischer Führungsanspruch
Die Geisteswissenschaften erhöben zu Recht einen "geistigen und ethischen Führungsanspruch", befand Wolfram Martini (Universität Gießen), der in Frankfurt den Philosophischen Fakultätentag vertrat. Aber sie müssten ihn sich auch erwerben - mit Kompetenz.

Wenn das gelinge, seien Ethiker, Philosophen, Theologen, Soziologen und Historiker als Autoren von "Handlungsanleitungen" als "Sinn- und Bedeutungsgeber" unerlässlich.
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Die Kommerzialisierung von Wissenschaft
Bedroht sehen sich die Geisteswissenschaftler indes von der "Ökonomisierung der gesamten Gesellschaft", wie Schiedermair es nannte. Das hatte jüngst auch der ehemalige Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Wolfgang Frühwald, in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" beklagt. Er kritisierte die "tägliche Abwertung der Geisteswissenschaften" als Folge einer allgemeinen "Kommerzialisierung und Kapitalisierung von Wissenschaft".
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Auch Schiedermair befand, Universitäten würden in erschreckendem Maße zu Wirtschaftsunternehmen zurecht gestutzt. "Die Wissenschaft wird zur käuflichen Ware. "Wer in diesem System keinen Gewinn erziele, verliere seine Existenzberechtigung. "Wenn es danach geht, können wir die philosophischen Fakultäten allesamt dicht machen", wetterte Schiedermair. (dpa)
 
 
 
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01.01.2010