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Sprachgespür: Kleinkinder brauchen Zuwendung  
  Babys im Alter von wenigen Monaten sind in der Lage, feinste Lautunterschiede zu erkennen - selbst wenn diese in ihrer Muttersprache keine Rolle spielen. Später geht diese Fähigkeit verloren. Eine Studie hat nun untersucht, ob sich der Rückgang aufhalten oder umkehren lässt. Das Ergebnis: Ausschlaggebend ist die persönliche Zuwendung, die die Kinder beim Kontakt mit Sprache erfahren. Video- oder Tonbandaufzeichnungen reichen für den Lernprozess dagegen nicht aus.  
Ein Team von Wissenschaftlern um Patricia Kuhl von der University of Washington beschreibt in den "Proceedings of the National Academy of Sciences" (PNAS) die Ergebnisse einer vierwöchigen Studie an Kleinkindern. Soziale Interaktion ist demnach beim Spracherwerb entscheidend.
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"Foreign-language experience in infancy"
Der Artikel "Foreign-language experience in infancy: Effects of short-term exposure and social interaction on phonetic learning" von Patricia Kuhl, Feng-Ming Tsao uind Huei-Mei Liu erscheint in den PNAS vom 14. Juli 2003.
->   PNAS
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Wenige Monate alte Babys können es
Frühere Studien haben es nachgewiesen: Babys können feine phonetische Unterschiede wie etwa zwischen den Lauten "p" und "b" erkennen - sowohl in ihrer Muttersprache als auch in einer Fremdsprache.

Doch zwischen dem sechsten und zwölften Lebensmonat geht den Kleinkindern diese Fähigkeit verloren, sie unterscheiden nur mehr Laute, die in ihrer Muttersprache eine Rolle spielen.
Studie: Babys hören Mandarin
Um herauszufinden, welche Faktoren bei diesem Rückgang eine Rolle spielen oder wie man ihn aufhalten könnte, untersuchten Kuhl und Kollegen, welche Wirkung der direkte Kontakt mit einer Fremdsprache auf Kleinkinder hat.

Die Wissenschaftler setzten neun Monate alte Babys aus englischsprachigen Familien über vier Wochen hinweg in zwölf Laborsitzungen (insgesamt etwa fünf Stunden) der chinesischen Hochsprache Mandarin aus - um schließlich ihre Fähigkeit, zwei sehr ähnliche chinesische Laute zu unterscheiden, zu testen.
Direkte Interaktion, Video oder Audio-Aufzeichnung

Co-Autorin Huei-Mei Liu war eine der chinesischen Sprecherinnen.
Dabei interagierte eine Gruppe der Kleinkinder direkt mit chinesischen Sprechern: Diese erzählten ihnen Geschichten oder spielten mit den Säuglingen, wobei die beiden letztlich getesteten Laute häufig wiederholt wurden.

Eine weitere Gruppe wurde mit den gleichen Sprechern konfrontiert - allerdings nur mittels Videoaufzeichnungen. Der dritten Gruppe schließlich wurden lediglich Audio-Aufzeichnungen der Sprecher vorgespielt.
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Die komplexe Wahrnehmung von Babys
Die Wahrnehmungsfähigkeiten von Babys sind bereits äußerst komplex: Wenige Stunden alte Neugeborene können das Gesicht ihrer Mutter wiedererkennen und blicken es lieber an als das Gesicht einer fremden Person. Sie können zudem Farben unterscheiden und verfügen schon über Gedächtnis - wenn auch dessen Zeitdauer noch sehr begrenzt ist. Babys besitzen auch die Fähigkeit zu erkennen, dass ein Objekt dieselbe Größe besitzt, egal, in welcher Entfernung es sich befindet. Und US-Psychologen konnten zeigen, dass bereits fünf Monate alte Kinder einfache Additions - und Subtraktionsaufgaben lösen können.

Und für Affengesichter beispielsweise haben die Kleinen eindeutig den besseren Blick: Während sechs Monate alte Kinder im Rahmen einer Studie mit Leichtigkeit sowohl die Züge verschiedener Menschen als auch Affen unterscheiden konnten, hat sich das Gehirn von erwachsenen Menschen bereits auf die Unterscheidung von Gesichtern der eigenen Art spezialisiert.
->   Mehr dazu: Babys haben besseren Blick für Affengesichter (16.5.02)
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Sitzungen mit Babysprache und Augenkontakt
Die einzelnen Sitzungen wurden so gestaltet, dass sie natürliche Interaktionen zwischen Erwachsenen und Kindern imitierten: Die Sprecher verwendeten etwa eine auf Babys ausgerichtete Sprache (Betonung, Tonhöhe, Sprechrhythmus), die laut früherer Studien von Kindern bevorzugt wird.

Ein bis drei Kleinkinder saßen jeweils etwas entfernt vom Sprecher oder Video- bzw. Audio-Gerät. In der Gruppe mit direktem Kontakt achteten die Sprecher auf häufigen Augenkontakt mit den Babys und verwendeten ihre Namen während der Sitzungen.
Test: Unterscheidung zweier sehr ähnlicher Laute
Nach vier Wochen testeten die Wissenschaftler die Fähigkeit der Kleinkinder, zwei sehr ähnliche chinesische Laute zu unterscheiden, die beide im Englischen nicht vorkommen.
Soziale Interaktion ist entscheidend
 


Um die Fähigkeit der Kinder zur Unterscheidung der Laute zu testen, trainierten die Wissenschaftler die Babys darauf, ihren Kopf als Reaktion auf einen Lautwechsel zu drehen. Korrekte Bewegungen wurden durch die kurze Präsentation eines mechanischen Spielzeuges (etwa ein Bär, der eine Trommel schlug) verstärkt.

Die Ergebnisse der Forscher sind eindeutig: Die Unterscheidung der beiden fast identisch klingenden Phoneme gelang demnach nur den Babys, die zuvor direkt mit den chinesischen Sprechern interagierten. Weder Video- noch Tonband-Aufzeichnungen hatten dieselbe Wirkung.

Wie Kuhl und Kollegen in den PNAS berichten, schließen sie aus ihrer Untersuchung, dass Kinder die persönliche Ansprache zum Erlernen von Sprachen brauchen - und schon sehr früh auch fremde Zungenschläge erfassen können, wenn sie direkten Umgang mit den Menschen haben.
->   University of Washington Center for Mind, Brain and Learning
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   Mütter können besser mit Babys sprechen als Väter (21.2.03)
->   Schon Babys werden durch TV beeinflusst (20.1.03)
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->   Bei Baby-Gebrabbel ist das Sprachzentrum aktiv (29.8.02)
 
 
 
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01.01.2010