News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Pogrom vor 60 Jahren erschüttert Polen  
  An die 1.600 jüdische Einwohner wurden in der polnischen Kleinstadt Jedwabne im Juli 1941 ermordet: von der einheimischen Bevölkerung und nicht wie bisher angenommen von deutschen Nazis. Das Buch mit den entsprechenden Fakten erschüttert in diesen Tagen das Geschichtsverständnis ganz Polens.  
Der Auslöser: ''Nachbarn'' von Jan T. Gross

Das umstrittene Buch
Viele Einwohner von Jedwabne können nicht fassen, dass ihr Ort plötzlich ins Zwielicht geraten ist. Anlass ist das Buch "Nachbarn" des Soziologen Jan Tomasz Gross, das vor ein paar Monaten auf Polnisch erschienen war.

Im wohl meistdiskutierten Buch der letzten Jahre beschreibt Gross, wie bis zu 1.600 jüdische Einwohner im Juli 1941 geschlagen, gesteinigt und verbrannt wurden - von ihren christlichen Nachbarn.
...
Neighbors: The Destruction of the Jewish Community in Jedwabne
von Jan Tomasz Gross, Princeton University Press; erscheint auf Englisch als Hardcover-Exemplar am 1. April 2001.
->   Kurzeinführung in "Neighbors"
...
60. Jahrestag des Pogroms
Der 60. Jahrestag des Pogroms wirft schon Monate vor den geplanten Gedenkfeiern einen langen Schatten. Die polnische Gesellschaft ist tief gespalten im Hinblick auf Schuld und Sühne, über die angemessene Art des Gedenkens und eine offizielle Entschuldigung.
Polen: Vor allem Opfer - aber auch Täter?
Angesichts der brutalen deutschen Besatzungspolitik im Zweiten Weltkrieg waren vor allem für die ältere Generation Polen nur als Opfer, nicht als Täter denkbar.

Etwa ein Viertel der polnischen Bevölkerung kam ums Leben - rund drei Millionen Juden als Opfer des Holocaust und etwa dreieinhalb Millionen ihrer christlichen Landsleute, die ebenfalls dem Nazi-Terror zum Opfer fielen, sich als Zwangsarbeiter zu Tode schufteten oder im Untergrundkampf starben. Ungefähr 5.000 Polen wurden bisher als "Gerechte unter den Völkern" ausgezeichnet, weil sie verfolgten Juden das Leben gerettet hatten.
Kwasniewski: Entschuldigung im Juli?
Staatspräsident Aleksander Kwasniewski war der erste polnische Spitzenpolitiker, der deutlich gemacht hatte, dass es nicht bei der Feststellung historischer Tatsachen durch Wissenschaftler und die Ermittlungen des "Institut des Nationalen Gedenkens" bleiben dürfe. Er halte die Gedenkfeiern im Juli für einen geeigneten Anlass, sich im Namen Polens für das Verbrechen zu entschuldigen, sagte er in einem Interview mit einer israelischen Zeitung.
...
Buzek: Keine Mitverantwortung am Holocaust
"Wenn wir als Volk ein Recht auf Stolz auf diejenigen Polen haben, die unter Einsatz des eigenen Lebens Juden retteten, müssen wir auch zur Schuld derjenigen stehen, die an ihrer Ermordung teilgenommen haben", betonte auch Regierungschef Jerzy Buzek. Zugleich warnte er davor, das Pogrom zur Verallgemeinerung der und zu falschen Thesen über die Mitverantwortung von Polen am Holocaust heranzuziehen.
...
Walesa: ''Haben uns bereits entschuldigt''
Für Entschuldigungen sei es viel zu früh, solange die Ermittlungen nicht abgeschlossen seien, zürnten dagegen Veteranenverbände. "Wir haben uns bereits entschuldigt, aber die Juden haben sich noch nicht bei uns entschuldigt", sagte Ex-Präsident Lech Walesa in einem Interview und setzte das Pogrom in Verbindung mit jüdischen Spitzeln des sowjetischen Sicherheitsdienstes - Ostpolen war bis zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion von Stalins Truppen besetzt gewesen.
Selbstverteidigungs-Komitee in Jedwabne
In Jedwabne bildete sich unterdessen ein Komitee zur Verteidigung des guten Namens von Jedwabne. Stanislaw Stefanek, der Bischof von Lomza, in dessen Diözese Jedwabne liegt, eilte zur Sonntagsmesse in die Kirche des kleinen Ortes und rief die Gläubigen auf, ihr Gewissen zu erforschen.

Gleichzeitig leistete er ihnen moralische Unterstützung: "Wir sind Zeugen einer noch nicht da gewesenen Attacke auf Jedwabne", sagte Stefanek, der von einer Kampagne gegen die Kleinstadt sprach. Der Primas der römisch-katholischen Kirche, Kardinal Jozef Glemp, sprach sich für ein gemeinsames Gebet von Juden und Christen aus, um der Opfer des Pogroms zu gedenken - wenn auch nicht unbedingt in Jedwabne.
...
Mitverantwortung der katholischen Kirche
Die katholische Kirche bleibt in Gross' Buch nicht ungeschoren - unter Hinweis auf Augenzeugen berichtete der Wissenschaftler, die jüdische Bevölkerung hätte noch kurz vor dem Pogrom vergeblich beim Bischof und beim Ortspfarrer Schutz gesucht.
...
Gelegenheit zur Versöhnung?
Obwohl sich die Fronten verhärten zwischen denen, die vollständige Aufklärung und Entschuldigung fordern, und denjenigen, die eine polnische Täterschaft schlicht leugnen, hofft der Warschauer Rabbiner Michael Schudrich, das Gedenken an Jedwabne könne zu einem Symbol der Versöhnung werden: "Das sollte keine Gelegenheit zur Abrechnung und Anklage sein, sondern zum Gebet, zur Verbundenheit in Trauer."

Dass es für viele in Polen nicht leicht sein werde, sich den dunklen Seiten der Vergangenheit zu stellen, betonte auch der israelische Botschafter Schewach Weiss, der selbst aus Polen stammt und ehemaliger Leiter der Gedenkstätte Jad Vaschem ist: "Es braucht Mut, sich selbst zu überprüfen und in den Spiegel zu blicken."

(dpa/red)
->   Linksammlung zu Texten über das Jedwabne-Pogrom
->   Jedwabne: History and Memorial Book
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010