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Verdrängung ist erlernbar  
  Es ist tatsächlich möglich, unerwünschte Erinnerungen zu vergessen. Den Nachweis dieser Hypothese liefert jetzt eine amerikanische Studie, die auch verständlich macht, warum Menschen nach traumatischen Ereignissen ihre Erinnerungen daran verlieren.  
Freud hatte doch recht
Die Forschungsergebnisse zweier amerikanischer Forscher untermauern nun Sigmund Freuds Konzept von Verdrängung. Der Vater der Psychoanalyse definierte Verdrängung als einen Prozess, in dem der Mensch etwas zur Seite schiebt und Abstand dazu hält. Die Forschungsergebnisse über das bewusste Verdrängen wurden jetzt im Fachmagazin "Nature" veröffentlicht.
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Zum psychoanalytischen Begriff der Verdrängung
Triebwünsche, Vorstellungen oder Gedanken eines Menschen, die nicht befriedigt werden dürfen, werden aus dem Bewusstsein ins Unbewusste verdrängt und daran gehindert, wieder ins Bewusstsein zu treten. Die verdrängten Triebimpulse verlieren aber nicht ihre Energie, sondern kommen in Träumen, Fehlleistungen oder Krankheitssymptomen wieder zum Vorschein. Insofern kann das Verdrängte die Lebensführung eines Menschen erheblich beeinflussen.
->   Mehr zum Begriff der Verdrängung
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Die Amerikaner Michael Anderson und Collin Green von der Oregon Universität in Eugene fanden diese These durch ihre Experimente bewiesen.
Verdrängung war wissenschaftlich umstritten
Seit Freuds Gründung der Psychoanalyse war umstritten, ob Erinnerungen tatsächlich aus dem Bewusstsein verbannt werden können. Wissenschaftliche Versuche in den sechziger und siebziger Jahren brachten widersprüchliche Ergebnisse.

Weit verbreitet war die Meinung, dass der willentliche Versuch, an eine Sache nicht zu denken, genau das Gegenteil bewirken würde.
Der Versuch: Verdrängung im Labor
Anderson und Collin erprobten im Labor das Vergessen von Erinnerungen. Studenten wurden aufgefordert Wortpaare auswendig zu lernen, die in keinem Zusammenhang zueinander stehen, wie zum Beispiel "Fisch" und "Prüfung". Wurde das eine genannt, sollte das andere erinnert werden.

Danach sollten die Testpersonen vermeiden, überhaupt an den zweiten Begriff zu denken. Später wurden die Studenten dann aufgefordert, das vollständige Wortpaar wieder zu erinnern.

Dabei zeigte sich, dass bewusstes Verdrängen funktioniert: Die Worte, an die sich die Probanden nicht erinnern sollten, waren tatsächlich nicht mehr präsent, auch wenn für die richtige Antwort Geld geboten wurde. "Menschen können tatsächlich Erinnerungen aus ihrem Bewusstsein drängen und sie so vergessen", resümiert der Psychologe Michael Anderson.
Strategien missbrauchter Kinder
Anderson glaubt, dass missbrauchte Kinder eine ganz ähnliche Strategie benutzten, um mit ihren Erlebnissen fertig zu werden. Wissenschaftler fanden heraus, dass Kinder den Täter eher vergessen, wenn er aus ihrer unmittelbaren Umgebung stammt, als wenn es sich um einen Fremden handelt.

Michael Anderson erklärt diesen Umstand damit, dass das Verdrängen tagtäglich forciert werden muss, wenn sich der Peiniger in unmittelbarer Nähe befindet. Diese verstärkte Verdrängung könnte ein Vergessen bewirken.
->   Mehr über Michael Anderson
Verdrängtes ins Bewusstsein zurückführen
Die Forschungsergebnisse der Amerikaner Anderson und Green werfen auch ein neues Licht auf die kontroversiell geführte Debatte, inwieweit verdrängte Erinnerungen von missbrauchten Kindern durch Gespräche wieder ins Bewusstsein überführt werden können.

"Niemand weiß ganz genau, ob die wiedergewonnenen Erinnerungen von eventuell missbrauchten Kindern tatsächlich der Wirklichkeit entsprechen oder nicht, die neuen Forschungsergebnisse unterstützen jedoch die These, dass wiedergewonnene Erinnerungen real sind und vorher nur unterdrückt wurden", so Chris Brewin vom University College London.
Traumatisierte Opfer
Die Forschungsergebnisse über das bewusste Verdrängen könnten generell bei der Behandlung traumatisierter Opfer hilfreich sein. Und zwar besonders bei der Gruppe, die unter 'post-traumatic stress disorder' (PTSD), dem sogenannten posttraumatischen Belastungssyndrom leiden. Dabei handelt es sich um Menschen, die ständig sie peinigende Erinnerungen wiedererleben.

"Auch Menschen, die unter PTSD leiden, versuchen ihr Trauma zu vergessen. Etwas jedoch hemmt diesen Prozess", meint Brewin. "Eventuell könnte es daran liegen, dass Verdrängung nur funktioniert, wenn man die Erinnerung daran direkt vor Augen hat, zum Beispiel, wenn ein Vietnam-Veteran weiterhin in Vietnam leben würde", meint Anderson. "Rückt der Gegenstand der Erinnerung aus dem Blickfeld, erlahmt die forcierte Verdrängungsanstrengung, und dann tauchen die schmerzhaften Erinnerungen wieder auf."
->   Mehr über PTSD
Verdrängung funktioniert auch im Alltag
Das Verdrängen von Erinnerungen bezieht sich jedoch nicht nur auf traumatische Ereignisse, sondern findet tagtäglich im Alltag statt.

"Wenn Sie erinnern wollen, was Sie letzten Freitag unternommen haben, müssen Sie den Samstag und Sonntag vergessen", meint Martin Conway von der Universität Bristol: "Man kann seine Erinnerungen nicht kontrollieren, aber wahrscheinlich manipulieren wir ganz bewusst, woran wir denken wollen oder was wir lieber vergessen".

Dass sich die Mechanismen des Vergessens und Verdrängens nicht auf die Ebene des Individuums beschränken, zeigt der Umgang mit der Geschichte.

(red)
->   Über den Abwehrkampf gegen die Erinnerung
->   Nature
 
 
 
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01.01.2010