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Stuart Hall: Über die Demokratie  
  Hat die liberale Demokratie samt Segnungen des freien Marktes endgültig triumphiert oder ist Demokratie eher ein unvollendeter Prozess, dessen Formen und Inhalte sich ständig verändern? Stuart Hall, der Doyen der Cultural Studies, ging diesen Fragen zum Auftakt der Documenta 11 in Wien nach.  
Stuart Hall setzte sich Donnerstag vormittag an der Akademie der bildenden Künste in sehr prinzipieller Weise mit dem Thema "Demokratie als unvollendeter Prozess" auseinander. Anlass war die Eröffnung der so genannten Plattform 1, die den Auftakt zur Documenta 11, der Kunstausstellung in Kassel 2002, bildete.
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Zur Person Stuart Halls
Stuart Hall wurde 1932 in Jamaica geboren. Er studierte in Oxford, arbeitete am Center for Contemporary Cultural Studies an der Universität in Birmingham und ist seit 1979 Professor am Institut für Soziologie an der Open University, Milton Keynes. Seine Forschungsschwerpunkte sind Cultural Studies, Postcolonial Studies und Medientheorie.
->   Biographie von Stuart Hall
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Demokratie: Zu leer und zu voll
Demokratie, so Hall, sei heute ein Begriff, der zugleich zu leer und zu voll erscheint, der von verschiedenen politischen Seiten für sich in Anspruch genommen und instrumentalisiert wird - und insofern nur noch in seiner radikalen Dekonstruktion zu verwenden sei.
Ambivalenz von Idee und Wirklichkeit
Um den Zwiespalt zu überwinden zwischen dem, was Demokratie als erstrebenswerte Idee einerseits bedeutet und als Beschreibung von Wirklichkeit andererseits, benutzte er einen Begriff von Ernesto Laclau: Demokratie ist demzufolge ein "Horizont", der bei seiner Ausweitung auch seine Form und seinen Inhalt verändert.
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Plattform 1 "Democracy Unrealized"
Als wesentliche Grundlage im Entstehungsprozess der Dokumenta 11 wurden vom Kurator Okwui Enwezor fünf so genannte "Plattformen" erarbeitet. Die Plattform 1 "Democracy Unrealized (Demokratie als unvollendeter Prozess)" findet in Wien (15.3.-20.4.) und Berlin (4.-25.10.) statt. Hauptveranstaltungsort in Wien ist die Akademie der bildenden Künste.
->   Infos zu Programm und Ablauf der Plattform 1
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Triumph der liberalen Demokratie
Gegenwärtig, so Hall, habe im Anschluss an Francis Fukuyamas Diktum vom "Ende der Geschichte" weltweit die liberale Demokratie triumphiert. Die Erreichung großer politischer Ideen erfordere scheinbar keine Energie mehr, politische Projekte werden eher wie das Überholen eines Motors betrachtet. Liberalismus und Demokratie werden als von einander nicht zu trennende Elemente empfunden.
Verteilungs-Ungerechtigkeit wächst
Diese Verbundenheit, so Hall, berge aber etliche Probleme. Ging der klassische Liberalismus von der These aus, dass der Markt der beste Verteiler ökonomischer Ressourcen ist, so widersprächen dem die Fakten einer zunehmend globalisierten Welt. Die Verteilung von Reichtum wird im Zeitalter des Neoliberalismus sowohl im lokalen als auch im Weltmaßstab immer ungerechter.
Freiheit des Marktes vor allen anderen

Der Freiheit des Marktes werden alle anderen Freiheiten untergeordnet, die meisten gesellschaftlichen Initiativen werden dämonisiert und selbst genuin sozial ausgerichtete Berufe werden nur mehr in Kategorien der Dienstleistungen gedacht. So habe erst unlängst der britische Premierminister Tony Blair den Lehrern Großbritanniens geraten, sich nicht mehr als Pädagogen zu verstehen, sondern als "Sozial-Unternehmer".
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Geschichte der Documenta
Der Kasseler Maler und Akademieprofessor Arnold Bode versuchte 1955 nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges durch eine "Präsentation der Kunst des 20. Jahrhunderts" Deutschland wieder in das internationale Kunstgeschehen einzubeziehen. Mit Hilfe einer von ihm gegründeten Gesellschaft präsentierte er die von den Nationalsozialisten als entartet diffamierte und bis dahin in Deutschland kaum gezeigte klassische Moderne. Durch den unerwarteten Erfolg der ersten Ausstellung ermutigt (130.000 Zuschauer), plante Bode für 1959 eine zweite. Seit 1972 besteht bei der documenta, die mittlerweile zu den weltweit angesehensten Ausstellungen zeitgenössischer Kunst gehört, das Ausstellungsintervall von fünf Jahren. Die Ausstellungen der documenta 11 ("Plattform 5") finden vom 8. Juni bis 15. September 2002 in Kassel statt.
->   Documenta 11 im Web
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Populismus: Simulation von Demokratie
Als eine der Konsequenzen der "Vermarktlichung" der Gesellschaft, die alle Sphären des öffentlichen Lebens mit dem Streben nach Wettbewerbsfähigkeit durchdringt, sieht Hall das Erstarken von Populismus und Nationalismus. Beide würden ihren Anhängern bzw. Vertretern ein Mehr an demokratischer Teilhabe versprechen, dabei handle es sich aber lediglich um eine "Simulation demokratischer Entscheidungsmöglichkeiten".

Nationalismus als Antwort auf eine zunehmend vernetzte Welt sei im Sinne eines emanzipativen Projekts höchst ambivalent. Im Anschluss an ein Zitat Frederic Jamesons, wonach noch immer der "Nationalstaat der einzige Platz für politische Kämpfe" sei , wäre zu konstatieren, dass sich als Reaktion auf die Globalisierung bislang vor allem xenophobe und rassistische Tendenzen verstärken.

Manche nationalen Antworten auf globale Verteilungsfragen seien laut Hall aber zu begrüßen: Die jüngste Weigerung Südafrikas etwa, den multinationalen Pharma-Konzernen jenes Geld zu bezahlen, das diese für nachgemachte, unlizenzierte Medikamente eingefordert hatten.

Lukas Wieselberg (red)
->   The Multicultural Question: A public lecture by Stuart Hall
->   Akademie der bildenden Künste Wien
->   Center for Contemporary Cultural Studies an der Universität in Birmingham
->   Open University, Milton Keynes
 
 
 
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01.01.2010