News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 
ÖGS: Orchideensprache oder Menschenrecht?  
  Ist die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS) eine ''Orchideen''sprache oder doch eher eine menschenrechtliche Notwendigkeit? Verena Krausneker von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften geht in ihrem Original-Beitrag für science.orf.at der Geschichte und der Zukunft der ÖGS auf den Grund.  
Verena Krausneker über die ÖGS:
"Die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS) ist eine von zirka 10.000 Menschen in Österreich als Erstsprache gebrauchte und seit Jahrhunderten 'ansässige' Sprache - aber seltsamerweise eher unbekannt.

Das liegt einerseits an der konkreten Geschichte der letzten hundert Jahre, die "Gebärdenverbote" in Gehörlosenschulen und die Verfolgung Gehörloser durch die Nationalsozialisten kannte, andererseits an der derzeit praktizierten Sprachenpolitik und der politischen Weigerung, der ÖGS ihre rechtliche Anerkennung angedeihen zu lassen.
Die Fakten

Gebärdensprachen sind Sprachen, die nicht auf Lauten basieren, sondern aus einem manuell-gestischen Code bestehen. Sie sind weltweit überall dort auf na-türliche Weise entstanden, wo es Gehörlosengemeinschaften gab/gibt.

"Gebärdensprache" ist der Überbegriff für eine ganze Sprachfamilie: es gibt unzählige nationale Varianten, möglicherweise genauso viele wie gesprochene Sprachen (um die 6000, Tove Skutnabb-Kangas (2000) Linguistic Genocide in Education - or Worldwide Diversity and Human Rights?), die sich markant voneinander unterscheiden, und regionale Varianten, die sich - so wie gesprochene Dialekte - voneinander unterscheiden.

Gebärdensprachen sind natürliche und nicht etwa erfundene Kunst- oder Plansprachen (wie es z.B. Esperanto ist).
...
Vollwertige, von Lautsprachen unabhängige Sprachen
Wissenschaftliche linguistische und neurologische Forschungsergebnisse waren - beginnend mit Stokoe, 1960 - grundlegend, um über die Natur der Gebärdensprachen Klarheit zu verschaffen: Es handelt sich bei den von Gehörlosen auf der ganzen Welt verwendeten natürlichen Sprachen um von Lautsprachen unabhängige, voll-wertige Sprachen mit eigenen Grammatiken, eigenem Vokabular etc., die visu-ell wahrgenommen werden und - wie Lautsprachen - linkshemisphärisch, im Sprachenzentrum des Gehirns ver-arbeitet werden.
...
Erwerbsprozess wie bei gesprochenen Sprachen
Ihr Erwerbsprozess weist ganz ähnliche Strukturen auf wie der von gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprachen der Welt sind Minderheitensprachen im Umfeld von gesprochenen Sprachen. Gehörlose als HauptverwenderInnen dieser Sprachen sind eine sprachliche Minderheit (charakterisierbar durch ein körperliches Merkmal), deren Gemeinschaften nur über ihre Sprache(n) definiert sind.
Bilinguale Lebenssituation

In Österreich gibt es Staatsbürgerinnen und -bürger, die aus oft physischen, manchmal familiären Gründen (z.B. hörende Kinder gehörloser Eltern) eine andere Erstsprache als die Majorität des Landes haben.

Diese Erstsprache ist die ÖGS. Für viele ist dies die einzige Sprache, in der sie sich jemals adäquat ausdrücken werden können, da die Lautsprache der sie umgebenden Gesellschaft nicht ungesteuert erworben werden kann.

Gehörlose sind StaatsbürgerInnen in einer bilingualen Lebenssituation, mit dem speziellen Aspekt, dass ihnen nur eine visuelle Sprache voll zugänglich sein kann.
Keine Behinderten-Sonderregelungen
Diese kleine Minderheit sollte nicht mit Sonderregelungen für "Behinderte" oder umständlichen technischen "Hilfsmitteln" abgetan werden, sondern das Recht auf Schulbildung in ihrer Sprache, medizinisches Service, psychosoziale Beratung in Gebärdensprache, DolmetscherInnen etc. haben.
Sprachrechte nicht anerkannt
Im Fall der Gehörlosen geht es um Sprachenrechte. Diese sind jedoch gegenwärtig in nur sieben europäischen Ländern (Dänemark, Finnland, Frankreich, Griechenland, Norwegen, Portugal, Schweden) und in ca. 20 Ländern weltweit gegeben, in denen die nationale Gebärdensprache anerkannt ist.

Der österreichische Nationalrat hat sich bis dato nicht entschließen können, auch österreichischen Gehörlosen, so wie anderen sprachlichen Minderheiten/Volksgruppen, Sprachrechte zu gewähren und dementsprechende Anträge (Petition Nr. 36 im Jahr 1993 und Petition Nr. 23 im Jahr 1998) wurden abgelehnt. Meiner Meinung nach steht dies in krassem Widerspruch zu der Idee der Menschenrechte.
Linguistic Human Rights

Denn derzeit ist in Österreich für Gehörlose der Zugang zu vielen Bereichen der Gesellschaft, der über die Sprache funktioniert nicht oder nur unzureichend gegeben: Der Zugang zu Bildung und Information ist grundsätzlich eingeschränkt oder unmöglich.

Die staatliche Finanzierung von DolmetscherInnen während der Berufsausbildung (insbesondere Hochschulen) und z.B. die tägliche Dolmetschung von Nachrichtensendungen im ORF wären maßgeblich dafür, dass österreichische Gehörlose an der Mehrheitsgesellschaft teilnehmen können.

Die Idee der sprachlichen Menschenrechte, wie sie Philipson und Skutnabb-Kangas formulieren, ist zentral für die Behandlung und Betrachtung von Minderheitenfragen. Ihr Konzept erweitert das Verständnis der Menschenrechte um den Aspekt der Sprachen.
...
Die Autoren schreiben: "Oftmals werden Individuen über/durch Sprache ungerecht behandelt oder unterdrückt. Menschen, denen keine sprachlichen Menschenrechte zugestanden werden, können auch um ihre anderen Menschenrechte gebracht werden. Dazu gehören faire politische Repräsentation, faire Gerichtsverhandlungen, Zugang zu Bildung, Zugang zu Information, freie Meinungsäußerung und Bewahrung ihres kulturellen Erbes." (Philipson and Skutnabb-Kangas, eds. (1995) Linguistic Human Rights. Overcoming Linguistic Discrimination, p.2, Übersetzung von mir).
...
Betrachtet man die Diskussion um Sprachenrechte für Gehörlose und dementsprechende Forderungen aus dieser Perspektive, dann wird klar: Hier geht es nicht um mitmenschliche Barmherzigkeit, staatliche Großzügigkeit oder den Erhalt einer "exotischen" Sprache um ihrer selbst Willen, sondern hier stehen Menschenrechte auf dem Spiel.
Forderungen
Gehörlosenverbände und auch mit Gebärdensprachforschung beschäftigte WissenschafterInnen haben daher in den letzten Jahren immer wieder sprachenpolitische Forderungen in unterschiedlichen Kontexten formuliert. Die Betroffenen haben ihre Interessen sehr deutlich artikuliert - wurden jedoch zu wenig wahrgenommen.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Kommission für Gebärdensprache des Weltverbands der Gehörlosen erarbeitete auf dem Weltkongress 1991 in Tokio eine Empfehlung, deren Punkt 1A lautet: "Hiermit rufen wir jede Regierung dazu auf, die offizielle Anerkennung der von den Gehörlosen ihres Landes verwen-deten Gebärdensprache(n) als eine der Landessprachen zu be-antragen (sofern dies nicht schon erfolgt ist). (...)"

Des weiteren gibt es zwei dementsprechende, eindeutige Resolutionen des Europäischen Parlaments aus den Jahren 1988 und 1998, die die Mitgliedsstaaten der EU dazu auffordern, ihre nationalen Gebärdensprachen anzuerkennen und Sprachenrechte für Gehörlose zu sichern."
...

Verena Krausneker
verena.krausneker@oeaw.ac.at
Österreichische Akademie der Wissenschaften
Forschungsschwerpunkt
Diskurs, Politik, Identität
...
->   Europäische Union der Gehörlosen (European Union of the Deaf)
->   Überblick über Österreichische Gehörlosen-Institutionen
->   Forschungszentrum für Gebärdensprache und Hörgeschädigtenkommunikation der Universität Klagenfurt
->   Weltverband der Gehörlosen (WDF - World Federation of the Deaf)
->   Gehörlosen-Server der Uni Klagenfurt
...
Internationales Gehörlosentheaterfestival
Vom 30. März bis 7. April findet das zweite Europäische udn Internationale Gehörlosenfestival "Sprachen Europas - Sprachen der Welt" statt. Informationen bei martina.montecuccoli@austria.com
...
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010