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Denken mit der Uhr im Nacken - Futurologie  
  Futurologen und Futurologinnen sind dafür zuständig, Szenarien und Modelle möglicher Zukünfte zu entwickeln und herauszufinden, welche die wahrscheinlicheren sind. Bei diesem Unterfangen hat die Futurologie nicht immer ein glückliches Händchen bewiesen.  
So hört man aus den Worten des Philosophen Boris Chasanows auch eine gewisse Erleichterung heraus: "Das wichtigste und wohl einzige Ergebnis, zu dem die Futurologie gekommen ist, ist die Einsicht, dass die Zukunft nicht vorhersagbar ist."
Literarische Anfänge
Dem englischen Philosophen Sir Francis Bacon (1561-1626) ging es in "New Atlantis" (1626) noch nicht um Vorhersagbarkeit, wohl aber um Beherrschbarkeit: Die Wissenschaften sollten religiöse Prophezeiungen und Erlösungsphantasien durch Planung und Wissen ersetzen, um damit die Menschheit der Zukunft von den zeitgenössischen Plagen (Seuchen, Erdbeben, Hungersnöte) zu erlösen.

Ungetrübter Glaube an den Fortschritt der Wissenschaften und Technologien beseelte auch die ersten utopischen Romane und Erzählungen des 18. und 19. Jahrhunderts. So beschreibt Jules Verne in seinem Roman "Paris im 20. Jahrhundert" (1863) Schreibautomaten, automatische Stadtbahnen und die von ihm so genannte "photografische Telegraphie", die wir heute als Fax kennen.

Im 20. Jahrhundert wendet sich der szientistische Zukunftsoptimismus in sein Gegenteil: Aldous Huxley und George Orwell beschrieben in ihren Romanen "Brave New World" (1932) und "1984" (1949) eine durch verwaltendes und manipulierendes Wissen enthumanisierte Welt, in der Menschen niemals glücklich werden können.
Futurologie als kritische Wissenschaft

Ossip K. Flechtheim, Begründer der Futurologie
Dem Politologen und Schöpfer des Begriffs "Futurologie" Ossip K. Flechtheim ging es in seinem 1943 veröffentlichten Artikel "Teaching the Future" gerade darum, dass solche Visionen nicht (oder nie wieder) Wirklichkeit werden können: Zukunft ist nicht nur gestaltbar, ja, sie wird bereits durch ihre Vorhersage beeinflusst: Es kommt darauf an, systematisch und mit wissenschaftlichen Mitteln "wünschenswerte Zukünfte" zu entwerfen: Es geht "darum, die positiven Möglichkeiten der Zukunft gegen die negativen Beschränkungen der Vergangenheit durchzusetzen."
Robert Jungk

Robert Jungk
Einen engagierten Mitstreiter für diese an gesellschaftspolitischen und ökologischen Fragen interessierte "kritische Futurologie" fand Flechtheim in dem Publizisten Robert Jungk (1913-1994), der 1965 in Wien das "Institut für Zukunftsfragen" gründete.

Jungks Futurologie ist partizipativ: Jeder Mensch ist ein potenzieller Experte in Zukunftsfragen. Dieser Gedanke liegt zahlreichen Zukunftswerkstätten, in denen Menschen gemeinsam Probleme und Lösungen im Hinblick auf mögliche Zukünfte erarbeiten, zugrunde.
->   Robert Jungk Bibliothek für Zukunftsfragen
->   Internationale Bibliothek für Zukunftsfragen der Robert Jungk Stiftung Salzburg
Grenzen des Wachstums
Der 1965 in Rom gegründete "Club of Rome" setzt demgegenüber nach wie vor auf Expertenwissen für die möglichst präzise Prognose der Menschheitsentwicklung und erlebte mit seinem ebenfalls 1965 erschienen Bericht "Die Grenzen des Wachstums" einen sensationellen Verkaufsschlager und weltweiten Spott, weil die Vorhersage von der baldigen Erschöpfung der fossilen Ressourcen (Erdöl, Kohle) nicht nur nicht zutraf, sondern sich die mit dem Energieverbrauch verbundene Naturzerstörung als die eigentliche Grenze des Wachstums erwies.
->   Club of Rome
Was nicht ist, kann ja noch werden
Keine Scheu vor großen Fragen hatten auch Herman Kahn und Anthony Wiener, als sie 1967 in ihrem Buch "The Year 2000" (dt: "Ihr werdet es erleben") von einer Besiedelung des Meeresbodens und einer ständigen Marsstation im Jahre 1982 spekulierten.

Peinlich, aber nicht peinlich genug: Das 1961 von Kahn gegründete Hudson Institute gibt es noch immer - inzwischen wird dort auftragsmäßig Zukunftsforschung betrieben, ebenso wie in der nicht minder berühmten Rand Corporation, die Entscheidungshilfen für Gesundheits- Bildungs-, Erziehungs-, Technologie- und Verteidigungspolitik anbietet.
->   Hudson Institute
->   Rand Corporation
Mehr oder weniger unbekümmert darum, dass Zukunft nicht vorhersagbar ist, versuchen die von Flechtheim als "Establishment-Futurologen" bezeichneten Zukunftsforscher derartiger Institutionen dem Noch-nicht und Vielleicht durch verschiedene Methoden beizukommen: Die (statistische) Extrapolation, bei der die Gegenwart auf die Zukunft hochgerechnet wird, ist dabei die beliebteste.

Zukunftsforscher wie Rolf Kreibich (Sekretariat für Zukunftsfragen), der ebenso wie Flechtheim an der Gestaltung "lebbarer Zukünfte" interessiert ist, entwerfen Szenarien im Hinblick auf bestimmte Problemstellungen. Es gilt, das wahrscheinlichste Szenario zu bestimmen, das die Kontrastfolie für die gewünschte, lebenswerte Zukunft bildet. Aus dieser Konfrontation werden mögliche Interventionsformen abgeleitet.
->   Sekretariat für Zukunftsfragen
Großes Meer, kleine Insel
Die Futurologie ist offensichtlich ein umkämpftes Gebiet, das Stanislaw Lem, Autor des "futurologischen Kongresses" nach eigenen Angaben immer gemieden hat: Futurologie bleibt für ihn vor allem ein Spiel der Phantasie, das mehr über die Gegenwart in wir leben, auszusagen vermag, als über ihren Gegenstand - die Zukunft. Denn schließlich ist unser Wissen über die Gegenwart bereits mehr als begrenzt: "Unser menschliches Nichtwissen ist ein Weltozean, das sichere Wissen stellt dagegen nur vereinzelte kleine Insel auf diesem Ozean dar."

Cathren Müller
->   Kolumne von Stanislaw Lem "Meine Weltanschauung"
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Literatur:
Georges Minois: Geschichte der Zukunft. Orakel, Prophezeiungen, Utopien, Prognosen, Düsseldorf 1998 (Artemis und Winkler), 830 S., ISBN 3-538-07072-5
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01.01.2010