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Kapitalismus oder Barbarei?  
  Seit es den Kapitalismus gibt, wird er aus vielerlei gesellschaftspolitischen Positionen kritisiert. Geschadet hat ihm das bis heute nicht. Spätestens 1989 - dem Jahr des Zusammenbruchs des Realen Sozialismus - hat das "Weltgericht Geschichte" über seine Alternativen geurteilt. Die Kritik an ihm ist dennoch nicht verstummt, im Gegenteil.  
Schlagworte wie "Globalisierung", "No Logo" oder "Empire" markieren die Eckpunkte einer Diskussion, die nach wie vor die "Nebenwirkungen" der weltweiten kapitalistischen Entwicklung nicht hinnehmen will. Die renommierte Zeitschrift "Merkur" liefert in ihrer jüngsten Ausgabe nun eine umfangreiche Verteidigung des vielgeschmähten Kapitalismus.
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Merkur. Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken: Kapitalismus oder Barbarei, Heft 9/10, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2003
Mit Beiträgen u.a. von: Richard Herzinger, Christian von Weizsäcker, Miriam Lau, Helmut Dubiel, Rudolf Burger, Eberhard Sens
->   Merkur
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Sieger und dennoch unbeliebt

"Die bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma: Entweder Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei", schrieb Rosa Luxemburg nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1915. Knapp 90 Jahre - zwei Weltkriege und ein Kalter Krieg - später erscheinen dies wie die Worte aus der politischen Steinzeit.

Kapitalismus, Rechtsstaat und die liberale Demokratie haben in der Auseinandersetzung der Weltentwürfe eindeutig gewonnen - dergestalt, dass die Rede vom "Ende der Geschichte" (Francis Fukuyama) schon zum Gassenhauer wurde. Und dennoch, "dass sich der Sozialismus als barbarisch erwiesen hat, hat den Kapitalismus bei den westlichen Intellektuellen nicht beliebter gemacht", wundern sich Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel, die Herausgeber des "Merkur".
Freiheit, nicht Ökonomie
Die vor kurzem erschienene "Merkur"-Ausgabe trägt den an Luxemburg angelehnten Titel "Kapitalismus oder Barbarei?" und versucht, "die revolutionäre Rolle, die politischen Fortschritte und die zivilisatorische Mission" unseres Wirtschaftssystems zu unterstreichen. Wobei schon einem Missverständnis aufsitze, wer "den Kapitalismus für eine Form der Ökonomie hält, der sich die Politik entgegensetzen könnte".

Vielmehr sei es bereits den bedeutenden Theoretikern - von Adam Smith bis Friedrich von Hayek - "primär um Freiheit" gegangen - dafür war "der Kapitalismus das Mittel und nicht der Zweck".
Philanthropische Manchesterliberale
Dies zu beweisen tritt ein Großteil der mehr als 20 Autoren an, die sich im aktuellen "Merkur" versammeln. Der "Zeit"-Redakteur Richard Herzinger etwa unterstreicht den "Ethos des Kapitalismus", unter anderem zum Ausdruck gebracht durch die strikte Gegnerschaft der deutschen neoliberalen Schule gegenüber dem Nationalsozialismus.

Selbst die "Manchesterliberalen" Mitte des 19. Jahrhunderts seien "Philanthropen" gewesen, die "den Ertrag ihrer Tätigkeit als Unternehmer in den Dienst ihres sozialreformerischen Idealismus stellten".
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Gespenst Neoliberalismus
Um zu klären, was es eigentlich heißt, wenn man von "Neoliberalismus" spricht, schreibt Uwe Jean Heuser eine kleine Geschichte desselben - unter dem bezeichnenden Titel "Ein Gespenst geht um in Deutschland". Der Soziologe Hans-Peter Müller von der Humboldt-Universität in Berlin wiederum liefert einen Überblick über den "Kapitalismus im Plural": die strukturellen Unterschiede zwischen liberalen und sozialen Marktwirtschaften, wie sie paradigmatisch von den USA/Großbritannien bzw. kontinentaleuropäischen Ländern vertreten werden.
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Kooperation gut für den eigenen Vorteil
Frei nach dem Ökonomen Adam Smith das Hauptargument, warum beim Wirtschaften der Markt gegenüber dem Plan vorzuziehen sei:

"Der Austausch von Gütern und Ideen auf dem Markt führt Menschen unterschiedlichster Herkunft und Prägung zusammen und lehrt sie durch die Erfahrung, dass die Anerkennung der Ansprüche anderer auf Dauer auch dem eigenen Vorteil förderlich ist." (Herzinger) Darauf baue Kooperation auf und letztlich ein demokratisches Miteinander.
Ein Lob der Entfremdung
Kritik linker Gesellschaftstheoretiker nach Marx - wie etwa jene der Entfremdung, die sich im Kapitalismus durch die Trennung des Produzenten von seinem Produkt ergebe - wird vom "Merkur" gewendet und zum Teil der Lächerlichkeit preisgegeben.

Jörg Lau etwa lobt im Gefolge Hegels ausdrücklich die Freiheitsmomente der menschlichen Entfremdung, ohne die es "weder Fortschritt noch Bildung oder Esprit, sondern nur Stagnation und Dumpfheit" gebe.
Ersatzreligion Konsumismus ...
Während der erste Teil des aktuellen "Merkur" Beiträge zur politischen Ökonomie sammelt, widmet sich Teil zwei dem Feld kulturellen Kapitals. Besonders lesenswert erweisen sich dabei die Aufsätze zum Konsumismus - einer Realität des Kapitalismus, die der Medienwissenschaftler Norbert Bolz als "Ersatzreligion" bezeichnet.
... hilft auch gegen den Terror der echten Religionen
Während der Feuilletonchef der "Frankfurter Rundschau", Harry Nutt, die dekadent-verführerische Atmosphäre von Kaufhaustempeln wie dem Berliner "Quartier 206" beschreibt, die gar keine Kaufhaustempel mehr sein wollen, sondern Orte "eines sozialen Rituals, das Zugehörigkeit verheißt", liefert Bolz praktische Antworten auf Fragen, die nicht zuletzt im US-State Department gestellt werden.

Gegen die Bedrohung der modernen Gesellschaft durch den Terror der Ausgeschlossenen, helfe nur eines: die "Konsumbürgerlichkeit", der "einzige Lebensstil, der massendemokratisch möglich" sei. Der Konsumismus, so Bolz, sei "das Immunsystem der Weltgesellschaft gegen den Virus der fanatischen Religionen".
"Deutschland sucht den Superessay"
Insgesamt ist "Kapitalismus oder Barbarei?" eine sehr anregende Aufsatz-Sammlung mit einer Schlusspointe: Obwohl die Reformen des Arbeitsmarktes, wie sie derzeit in Deutschland etwa sehr drastisch geplant sind, nur ein Randthema der "Merkurschen" Kapitalismus-Verteidigung sind, erfassen die Ausläufer auch sie. Mit den Worten "Deutschland sucht den Superessay - großes Casting!" werden unter 28-Jährige zu Heftende aufgefordert, Essays an die Redaktion zu schicken.

Als Preise winken unter anderem zwei Voluntariate im Verlag des Hauses - womit sich der "Merkur" in Sachen marktwirtschaftlicher Personalpolitik auf der Höhe der Zeit befindet.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at
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01.01.2010