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Gedächtnis: Die Karriere eines Begriffs  
  Die Selbstverständlichkeit, mit der in der gegenwärtigen Wissenschaftslandschaft mit dem Begriff des Gedächtnisses operiert wird, ist ein Ergebnis der beiden letzten Jahrzehnte. Die Historikerin Heidemarie Uhl zeichnet in einem Gastbeitrag die erstaunliche Karriere nach, die das "Gedächtnis" im Bereich der öffentlichen Geschichtskultur ebenso wie in der Wissenschaft erfahren hat.  
Faszinosum Gedächtnis
von Heidemarie Uhl

Ein neues Interesse an "Vergangenheit", an Erinnern und Gedenken hat sich am Ende des 20. Jahrhunderts Bahn gebrochen. "Mit gesenkten Augen und dem Rücken voran [stolpern wir] in ein neues Jahrtausend", bemerkte Stephen Toulmin am Beginn der 90er Jahre kritisch und konstatierte die Erodierung von Zukunftsgewissheit und Fortschrittsglauben.

Die Vorstellung, nicht mehr in der Moderne, sondern in ihrem posthistoire zu leben, mag - ob als Ursache dieser Entwicklung oder als ihr Katalysator - einen Hintergrund für diesen Perspektivenwechsel bilden; unbestritten ist, dass sich Orientierungswissen und Erwartungshorizonte nicht mehr vorrangig aus Zukunftsentwürfen, sondern aus den Erfahrungen der Vergangenheit speisen.
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Ernst Mach Forum über das "Gedächtnis"
Wie verschränkt sich Gedächtnis als Erinnerungsform mit dem neurophysiologischen Prozess? Ist das Gedächtnis tatsächlich ein Speicher unserer Erfahrungen? Diesen und ähnlichen Fragen geht das nächste Ernst Mach Forum in Wien nach.
Verhandlungen um das Gedächtnis: Speicher oder Momentaufnahme?
Zeit: Mittwoch, 15. Oktober 2003, 18 Uhr
Ort: Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW),
Theatersaal, Sonnenfelsgasse 19, 1010 Wien
->   Mehr über die Veranstaltung
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Assmann: In Überlieferung wird Gesellschaft sichtbar
Jan Assmann, einer der einflussreichsten Theoretiker des Gedächtnisparadigmas im deutschsprachigen Raum, hat in einem der ersten Grundlagentexte zum Konzept des kulturellen Gedächtnisses, dem 1988 erschienenen Aufsatz "Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität", das Interesse für die "kulturellen Formungen" sozialer Erinnerung gerade durch deren Relevanz als Indikatoren für das Normen- und Wertesystem einer Gesellschaft legitimiert: "In ihrer kulturellen Überlieferung wird eine Gesellschaft sichtbar: für sich und für andere. Welche Vergangenheit sie darin sichtbar werden und in der Wertperspektive ihrer identifikatorischen Aneignung hervortreten lässt, sagt etwas aus über das, was sie ist und worauf sie hinauswill."
"Gedächtnisboom"
Das wissenschaftliche Interesse für die Formen des Gedächtnisses kann auch als eine Resonanz auf entsprechende Entwicklungen in der öffentlichen Geschichtskultur gesehen werden. Seit den beginnenden 80er Jahren mehren sich die Ansätze eines "Gedächtnisbooms" (Pierre Nora), dessen sichtbare Zeichensetzungen in Museumsgründungen, historischen Ausstellungen, Denkmälern, neuen Gedenktagen etc., aber auch in "flüssigeren" Formen wie Publikationen, Filmen, Medienberichten, TV-Dokumentationen zum Ausdruck kommen.
Die Radikalität der kulturwissenschaftlichen Wende
Angesichts der Karriere von "Gedächtnis" im Feld der Wissenschaften - als Leitbegriff der Kulturwissenschaften und als einer transdisziplinären Schnittstelle zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, Medizin und technischen Wissenschaften - ebenso wie in gesellschaftspolitischen und kulturellen Handlungsfeldern ist die Radikalität des kulturwissenschaftlichen Perspektivenwechsels unter dem Vorzeichen des Gedächtnis-Begriffs kaum noch erkennbar.

Gedächtnis war bzw. ist allerdings nach wie vor das Fahnenwort der konstruktivistischen Wende in den Geschichtswissenschaften, durch die sich das Denken über die Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart gewissermaßen umgekehrt hat: Die Vorstellung einer authentischen "vergangenen Wirklichkeit" (also die Existenz einer Vergangenheit an sich), die durch die Geschichtsschreibung möglichst objektiv wiedergegeben werden kann, ist ins Wanken geraten.
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Drei Prämissen: Konstruktivismus, Narrativität, linguistic turn
Drei Prämissen sind dafür ausschlaggebend: Erstens das konstruktivistische Credo, wonach gegenwärtige und vergangene "Wirklichkeit" als solche - das heißt jenseits eines Beobachterstandpunktes - nicht existiert, sondern immer nur aus dem Blickwinkel der jeweiligen Gegenwart betrachtet und rekonstruiert werden kann; der Blick in das Archiv der Geschichte ist also perspektivisch und von den Epistemen der jeweiligen Gegenwart bestimmt.

Zweitens das Postulat der Narrativität: Geschichtsschreibung ist immer auch Erzählung und damit den rhetorischen und performativen Strukturen des story telling unterworfen.

Und drittens der linguistic turn: Der Historiker, die Historikerin hat es nicht mit der Vergangenheit zu tun, sondern mit Texten über die Vergangenheit, das heißt, dass eine historische Analyse einerseits die Textualität der Quellen berücksichtigen muss und andererseits davon auszugehen hat, dass Sprache kein durchsichtiges Medium ist, das eine authentische Wiedergabe vergangener Wirklichkeit erlaubt.
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Unabgeschlossener Prozess von Verhandlungen
"Gedächtnis" bezeichnet somit einen unabgeschlossenen Prozess der Verhandlungen um die historischen Bezugspunkte eines Kollektivs, des re-writing von Vergangenheit auf kollektiver und individueller Ebene. Auch Gedächtnisorte - Denkmäler, Museen etc. - sind nur vorgeblich die Speicher des Gedächtnisses einer Gesellschaft , vielmehr erscheinen sie als vieldeutige Darstellungsformen (Repräsentationen), offen für das Einschreiben neuer Bedeutungen.

Speicher und Momentaufnahme, die (vergeblichen) Versuche des Bewahrens der Vergangenheit und die permanente Überschreibung mit neuen Bedeutungen - gerade diese Vieldeutigkeit und Ambivalenz lässt Gedächtnis eher als Palimpsest denn als Monument erscheinen. Es ist wohl gerade dieses Prozess des Unabgeschlossenen, der Gedächtnis nach wie vor zu einem Faszinosum für WissenschaftlerInnen verschiedener Disziplinen macht.
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Über die Autorin
Die Historikerin und Kulturwissenschafterin Heidemarie Uhl ist Mitarbeiterin an der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Sie forscht vorwiegend zu Themen des kollektiven Gedächtnisses und dem Umgang mit NS-Vergangenheit sowie zu Fragen kultureller Identitäten.
Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte.
->   ÖAW
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Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Der Holocaust als "Bruchlinie" des 20. Jahrhunderts (11.11.02)
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01.01.2010