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Berufsorientierung für Mädchen und Knaben  
  Der Übergang von der Schule zum Arbeitsleben ist heutzutage für beide Geschlechter nicht eben leicht. Orientierungshilfe ist gefragt - vor allem für weibliche Schulabgänger, wie der Erziehungswissenschaftler Günther Dichatschek in einem Gastbeitrag erläutert. Eine mögliche Hilfestellung: Die so genannte vorberufliche Bildung oder "Berufsorientierung" von Schulen, Arbeitsmarktservice und Wirtschaftskammer.  
Vorberufliche Bildung/Erziehung
Von Günther Dichatschek

Bei unerfreulichen Zuständen wird häufig der Ruf nach dem Bildungsauftrag der Schule laut. Dies scheint besonders bei der Diskrepanz zwischen dem Gleichheitsgrundsatz und beruflichen Benachteiligungen der Fall zu sein.

Schule wird aufgefordert, Bildungsdefizite abzubauen. Schule soll die Familienordnung fördern/reduzieren, Berufsmotivation wecken und SchülerInnen auf den handwerklichen Bereich "umlenken" sowie "Technikdistanz" bei Mädchen minimieren. Es geht auch um den Abbau der Benachteiligungen - insbesondere von Mädchen und AusländerInnen - im Berufs-, gesellschaftlichen und politischen Leben, damit auch um Veränderung von Berufsorientierung, weil

- die Schule nach Artikel 7 des Bundesverfassungsgesetzes der Chancengleichheit verpflichtet ist

- Berufsorientierung die Aufgabe hat, SchülerInnen zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Arbeits- und Berufswelt zu befähigen

- Mädchen und Buben nicht nur Objekte gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern auch Subjekte ihrer Lebensbedingungen sind. Diesen Zustand transparent zu machen und einen Diskurs zu ermöglichen, ist Aufgabe und pädagogischer Beitrag vorberuflicher Bildung in Verbindung mit politischer Bildung/Erziehung.
Aspekte eines Berufsfindungsprozesses von Mädchen
Mädchen werden im Berufsfindungsprozess neben dem Wandel der Qualifikationsanforderungen und beruflichen Perspektiven auch mit geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung, einengenden Geschlechtsstereotypen, mit widersprüchlichen Verhaltensanforderungen und mitunter diskriminierenden Ausgrenzungen konfrontiert.

Mädchen wollen aber einen qualifizierten Beruf, der Spaß macht und Perspektiven eröffnet. Sie wollen unabhängig und selbstständig sein und ihre Rechte einfordern können. Berufsausbildung steht an erster Stelle ihrer Lebensplanung.
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Stärkere Individualisierung und Ausdifferenzierung
Die teilweise Auflösung traditioneller weiblicher Lebensmuster hat eine stärkere Individualisierung und Ausdifferenzierung der beruflichen Biographien von Mädchen/Frauen mit sich gebracht. Folglich kam es zu einem verstärkten Anspruch auf Selbstbestimmung und eigener Existenzsicherung. Zugleich kommt eine verstärkte Konkurrenz zwischen Abgängerinnen verschiedener Schultypen und Unausgebildeten sowie jungen und alten Frauen. Für kinderlose Frauen eröffnen sich bessere Berufs- und Karrierechancen.
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Schwierigkeiten beim Übergang
Tendenziell stößt man beim Übergang von der Schule in die Arbeits- und Berufswelt auf folgende Schwierigkeiten: Beim Einlösen von Ansprüchen, die an die Berufswelt gestellt werden, stehen heute begrenzte Handlungsräume zur Verfügung.

Im Vordergrund stehen marktwirtschaftliche Verwertungsinteressen mit an männliche Berufsvorstellungen gekoppelten Erwartungen und Vorstellungen, die sich am vorherrschenden Weiblichkeitsbild orientieren. Trotz der besseren schulischen Zensuren und Abschlüsse haben Mädchen größere Schwierigkeiten, einen Ausbildungsplatz zu bekommen.
Enges Berufsspektrum für Mädchen
Im dualen Ausbildungssystem steht Mädchen ein enges, im Vergleich zu den Knaben völlig unterschiedliches Berufsspektrum zur Verfügung. Mädchen werden nach wie vor in traditionellen Frauenberufen ausgebildet.

In der Folge erzeugt man bei der Anwendung solcher Orientierungsmuster ein hohes Übergangsrisiko bei einem Berufswechsel. Ebenso behindern geringere Verdienstmöglichkeiten eine Existenzsicherung und lassen Frauen als prädestiniert gelten, während der Familienphase die Berufstätigkeit zu unterbrechen, weil es sich ökonomisch besser rechnet, wenn man aussteigt.
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Berufsbereiche verschwinden, verschärfte Konkurrenz ...
Derzeit stellt sich die Alternative Frauen- oder Männerberufe nicht. Ganze Berufsbereiche mit überwiegender Frauenbeschäftigung verschwinden oder sind von Rationalisierungsmaßnahmen bedroht. In Berufsfeldern mit Technik und arbeitsorganisatorisch neuer Gestaltung sind Frauen/Mädchen verschärfter Konkurrenz ausgesetzt - man denke an Verwaltung und Management. Modellversuche wie "Töchter können mehr" zeigen ernüchternd, wie realistisch Einschätzungen vorgenommen werden. Unbestritten können heute Mädchen/Frauen mehr Qualifikationen erreichen, die ihnen früher verschlossen blieben.
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Beruf und Freizeit/Familie
Junge Frauen der neunziger Jahre und am Beginn des 21. Jahrhunderts wollen Beruf und die Verwirklichung privater Vorstellungen in Freizeit und Familie.

Diese doppelte Orientierung auf Beruf und Familie ist empirisch abgesichert und dokumentiert den Anspruch, beide Lebenspraxen zu vereinbaren - übrigens auch ein Anspruch, den gleichaltrige männliche Jugendliche vertreten. Die Differenzierung liegt darin, dass Mädchen Vorstellungen haben, in denen das eine das andere ausschließt.
Verzicht oder Doppelbelastung
Nur Mädchen werden gezwungen, über Verzicht oder Doppelbelastung nachzudenken. Im Berufsfindungsprozess der Mädchen verschärfen sich die Probleme. Bei Knaben stehen im Mittelpunkt ihres beruflichen Sozialisationsprozesses die Konzentration auf Berufschancen, Einkommen und Karriere.

Mädchen haben dagegen widersprüchliche Verhaltenserwartungen. Sie sollen einerseits die Aufgabe der sozialen Reproduktion im familiären Bereich übernehmen und andererseits ihren Anteil an Erwerbsarbeit mitgestalten.

Einerseits diktiert der Erwerbsmarkt, andererseits wird ihnen sofort unterstellt, bei Familiengründung diese Maßstäbe langfristig nicht erfüllen zu können/wollen. In dieser Situation darf es nicht erstaunen, dass Mädchen sich am traditionellen "Drei-Phasen-Modell" Ausbildung-Beruf-Familie orientieren.
"Berufsorientierung" als Hilfestellung
Vorberufliche Bildung der Schule ("Berufsorientierung"), des Arbeitsmarktservice und der Wirtschaftskammer kann dazu beitragen, dass sich Mädchen und Knaben nicht als Objekte von bestimmten Zwängen der Arbeits- und Berufswelt erfahren, sondern vielmehr als Subjekte ihrer persönlichen Lebensverhältnisse bestimmen.

Viele Fragen, die nicht durch Berufsorientierungsunterricht, Realbegegnungen und Beratung beantwortet werden können, lassen sich durch mehr Wissen und die Erkenntnis, dass die Arbeits- und Berufswelt von Menschen nach bestimmten Interessen und Möglichkeiten gestaltet werden, besser in den Griff bekommen.
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Informationen zum Autor: Günther Dichatschek
Univ. Lektor Dr. Günther Dichatschek ist Lehrbeauftragter am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Wien (Berufspädagogik/Vorberufliche Bildung) und langjähriger Schülerberater.
->   Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Wien
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01.01.2010