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Oft ein Tabu: Die Risiken der Krebs-Früherkennung  
  Der Nutzen der Krebsfrüherkennung liegt auf der Hand: Je früher eine Krebserkrankung erkannt wird, desto besser sind die Heilungschancen. Dass die Untersuchungen aber auch ein Vielfaches an falschen Verdachtsfällen, Nachuntersuchungen, Ängsten und überflüssigen Operationen produzieren, wird meist verschwiegen.  
Evidenzbasierte Empfehlungen ...
Wer von einem bei der Früherkennung entdeckten Krebs geheilt wird, ist schwerlich davon abzubringen, dass die Früherkennung sein Leben gerettet hat. Dabei kann es sein, dass eine spätere Diagnose keinen Unterschied gemacht hätte. Möglich ist auch, dass sich die Krebszellen von selbst zurückgebildet hätten oder der Tumor so langsam weitergewachsen wäre, dass den Patienten mittlerweile eine andere Todesursache ereilt hätte.

"Wir versuchen evidenzbasierte Empfehlungen abzugeben", sagt Doris Sommer, Geschäftsführerin der Österreichischen Krebshilfe. Doch die Evidenz für den Nutzen der Mammographie ist schwach.
->   Österreichische Krebshilfe
... mit wenigen Evidenzen
Die dänischen Epidemiologen Peter Götzsche und Ole Olsen werteten in der Zeitschrift "Lancet" (2000, 355: 129) sämtliche Langzeitstudien aus. Sie kamen zum Schluss, dass fast alle durch methodische Fehler erheblich verzerrt waren. Die einzigen beiden validen Studien zeigten aber keinen Nutzen der Mammographie.

Selbst wenn man über die methodischen Mängel hinwegsieht, verhält es sich so: Von 1.000 Frauen zwischen 50 und 69, die wie empfohlen alle zwei Jahre zur Röntgenreihenuntersuchung gehen, werden drei an Brustkrebs sterben. Ohne Mammographie sind es vier.
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Das steckt übrigens dahinter, wenn davon die Rede ist, dass die Früherkennung das Risiko, an Brustkrebs zu sterben, um 25 Prozent senke. Gerd Gigerenzer und Ulrich Hoffrage vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (MPI) haben gezeigt, dass nur wenige Ärzte die Zahlen der epidemiologischen Studien richtig deuten, geschweige denn ihren Patienten vermitteln können.
->   Gerd Gigerenzer: Das Einmaleins der Skepsis (MPI)
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Selten angesprochene Kehrseite
Ein gerettetes Leben von tausend könnte den ganzen Aufwand und die Ängste, sich regelmäßig mit Krebs zu beschäftigen, ja wert sein. Aber für die untersuchten Frauen gibt es eben auch die selten angesprochene Kehrseite.

Wer in der Früherkennung einen verdächtigen Befund bekommt und weitere Untersuchungen abwarten muss, wird bei der Mitteilung, dass doch alles in Ordnung ist, zu erleichtert sein, um zu begreifen, dass ohne Früherkennung nie Grund zur Angst bestanden hätte.
"Falsch positiver" Befund häufiger als richtige Diagnose
Bei der Mammographie ist ein "falsch positiver" Befunde etwa zehnmal so häufig wie eine sich bestätigende Krebsdiagnose.

Dass jede zweite Frau, die zwischen 40 und 70, wie von der Krebshilfe empfohlen, alle zwei Jahre zur Reihenuntersuchung geht, mindestens einmal mit einem falsch-positiven Befund konfrontiert sein wird, ist in ihren Informationsmaterialien nirgends vermerkt.
Vor- und Nachteile
Zur Angst nach einem positiven Befund kommen oft weitere Untersuchungen, mitunter auch ein Gewebsschnitt. Entdeckte Tumore werden operiert oder bestrahlt. Dabei wären einige davon nie zu einer Gefahr geworden. Einzelne Frauen werden durch die regelmäßigen Röntgenstrahlen Krebs bekommen. Ist der Tumor ohnehin tödlich, erhalten die Frauen ihre Diagnose durch Mammographie nur einige Jahre früher.

All dem gegenüber steht, dass früh erkannte Tumore schonender behandelt werden können. Das ist es auch, was die Krebshilfe herausstreicht.
Krebshilfe-Kampagne 2004 widmet sich Prostata
Mit ihren Gedanken ist die Krebshilfe-Geschäftsführerin schon beim nächsten der "drei großen Killer": Brustkrebs war 2002 dran, heuer stand die Kampagne im Zeichen des Darmkrebs, und im kommenden Jahr will die Krebshilfe Prostatakrebs zu ihrem Schwerpunkt machen. Zu diesem Thema findet sich auf ihrer Website bereits ein Selbsttest. Die geringste Auffälligkeit beim Harnlassen wird darin als Grund gewertet, den Arzt aufzusuchen.

In der hauseigenen Zeitschrift "Krebs:hilfe" las sich das im vorigen Jahr noch etwas differenzierter. Der so genannte PSA-Test führe zu vielen Diagnosen und Behandlungen, wo das Leben des Patienten gar nicht gefährdet ist, räumte der Grazer Urologie-Professor Karl Plummer da ein. Reihenuntersuchungen seien daher nicht zu empfehlen. Doch wie schon die Website fand auch Plummer einen "Schlenker": Falls der Patient den Test wünscht, müsse der Arzt natürlich Folge leisten.
Überdiagnose: Auch ein Fall steigender Lebenserwartung
Dabei ist dieses Krankheitsbild ein Lehrbuchbeispiel für die Gefahren der Überdiagnose. Dass die Zahl der Prostatakrebsfälle in aller Welt massiv im Steigen begriffen ist, liegt in erster Linie daran, dass immer mehr danach gesucht wird, in zweiter Linie an der gestiegenen Lebenserwartung.

Wer in Deutschland dem Prostatakrebs erliegt, ist im Durchschnitt 77,6 Jahre alt geworden, sprich: gut drei Jahre älter als das gemittelte männliche Sterbealter. Die meisten sterben aber nicht am Prostatakrebs, sondern mit ihm. Bei jedem Zweiten, der mit über achtzig an einer anderen Ursache stirbt, finden sich Krebszellen in der Prostata. Das alles relativiert das Bild vom "großen Killer" dann doch ein wenig.
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Risiken der Behandlung
Einschneidend für die Betroffenen sind die Folgen einer Behandlung: Nach Entfernung der Prostata werden die meisten impotent, viele auch inkontinent. Hormone, Operation und Bestrahlung stellen für viele der oft schon Hochbetagten ein mindestens so großer Risiko dar wie der in aller Regel langsam wachsende und selten auf andere Organe übergreifende Krebs in ihrem Unterleib.

In einer skandinavischen Studie wurde die Hälfte der Patienten operiert, die andere nur beobachtet. Bei Abschluss der Studie waren aus beiden Gruppen gleich viele verstorben. Dass die Patienten der Kontrollgruppe weniger zu leiden hatten, muss wohl nicht eigens erwähnt werden.
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Für eine Umkehrung der Betrachtung
Die aus Österreich stammende Gesundheitswissenschaftlerin Ingrid Mühlhauser bemüht sich seit Jahren um eine objektive Darstellung von Nutzen und Schaden der Mammographie. Anfeindungen von Ärzten und geheilten Patienten nimmt sie schon lange nicht mehr persönlich.

Die Überschätzung der Früherkennung sei zu tief in den Köpfen, um die Fakten unaufgeregt wahrnehmen und diskutieren zu können.

Für eine Umkehr der Betrachtung plädieren die deutschen Gesundheitswissenschaftler Jürgen Windeler und Stefanie Thomas: "Sicher ist, dass Früherkennung schadet - manchmal nützt sie auch."
Kritik an Präventivmedizin
David Sackett klagt in der Zeitschrift der Canadian Medical Association (2002, 167: 363-364) über die Arroganz der Präventivmedizin: Ihre Befürworter machen gesunden Menschen Vorschriften, gehen ohne Nachweis davon aus, dass der Nutzen den Schaden übersteigt, und kanzeln jene ab, die an ihrem Nutzen zweifeln, so Sackett: "Die Präventivmedizin ist zu wichtig, um sie diesen Leuten zu überlassen."

Während Früherkennung anderswo also längst kontrovers diskutiert wird, ist ihr Ruf in Österreich ungebrochen gut. Die Krankenkassen zahlen von Gesetz wegen aus den Beiträgen der Allgemeinheit die Zeche. Zumal die Österreicher ohnehin nur einen Bruchteil der ihnen zustehenden Vorsorgeuntersuchungen wahrnehmen, halten sich die Kosten ja auch irgendwie in Grenzen.

"Wenn die Krebshilfe wirbt", weiß Oskar Meggeneder von der Oberösterreichischen Gebietskrankenkasse, "kommen ein paar Leute mehr, aber das ist nur ein kurzer Ausschlag." Nach der Kampagne ist bald alles wieder beim Alten.

Stefan Löffler, heureka
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Die Langfassung dieses Textes erscheint am 5. November in der neuesten Ausgabe von "heureka", der Wissenschaftsbeilage des "Falter". Das Heft widmet sich diesmal den Themen Gesundheit und Pharma.
->   Heureka
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Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   MRT bei Brustkrebsdiagnose am besten (3.6.03)
->   Krebs-Vorsorge: Früherkennung kann Leben retten (8.5.03)
->   Mammographie verringert Brustkrebs-Sterblichkeit (25.4.03)
->   Brustkrebs: Mammographie-Screening in Diskussion (24.1.03)
 
 
 
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01.01.2010