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Theater als Weltkulturerbe?  
  Ist Theater ein Relikt bildungsbürgerlicher Ideale oder soll sein aufklärerischer Charakter - auch und gerade in Zeiten knapp werdender Subventionen - weiter betont werden? Die Theaterwissenschaftlerin Elisabeth Großegger geht im Vorfeld eines Kongresses in Wien diesen Fragen nach - und stellt in ihrem Gastbeitrag auch zur Diskussion, ob es der deutschsprachigen Theaterlandschaft helfen könnte, mit dem Prädikat "Weltkulturerbe" ausgezeichnet zu werden.  
"Theaterland wird abgebrannt" - Theater als "Weltkulturerbe"?
Von Elisabeth Großegger

Theaterland wird abgebrannt - unter diesem Titel versammelten sich Kulturschaffende aus ganz Deutschland am 3. Oktober 2003, dem zehnten Jahrestag der Schließung des Schillertheaters, in Berlin zu einer Lagebestimmung und machten so auf die zunehmende Existenzgefährdung der Theater durch den Subventionsabbau aufmerksam.

Diese Initiative assoziiert die Möglichkeit, immaterielle Werte, fließende Inhalte, als cultural heritage einer Gruppe zu definieren, um die im deutschsprachigen Raum vorherrschende Tradition der öffentlichen Subvention des Theaters als ein schützenswertes Erbe zu deklarieren.
Theater kontra Massenmedien
Theater als Ort der Öffentlichkeit und als ein Massenmedium des 18. und 19. Jahrhunderts wird offenkundig zunehmend als categorie negligable betrachtet. Gestand man dem Theater noch im 20. Jahrhundert die Potenz zu, kollektives Gedächtnis zu bilden und herzustellen, so scheint es diese Qualität heute an die Massenmedien Film und Fernsehen abgetreten zu haben.

Vor dem Hintergrund des Wandels der europäischen Kultur, der grundlegenden Transformation der gesellschaftlichen Kommunikation von der Wiederholung bekannter Inhalte auf Überraschung mit immer neuen Bildern, gerät das Theater als Ort, an dem ein Kollektiv als Erfahrungs- und Erlebniseinheit angesprochen werden kann, zusehends in die Krise.
Entstanden aus aufklärerischen Bemühungen ...
Die deutschsprachige Theaterlandschaft in ihrer besonderen, öffentlich subventionierten Ausformung, einer einmaligen, mehr als 200 Stadt-, Landes-, "National"-, Staats- und Bundestheater umfassenden Struktur in Deutschland, Österreich und der Schweiz, verdankt ihre Entstehung vor rund 200 Jahren den aufklärerischen Bemühungen des Bildungsbürgertums, das den identitätskreativen Wert des Theaters für die Moral und Erziehung des Menschengeschlechtes wiederholt herausgestrichen hat.
... mit beständiger Kritik
Schon im 18. Jahrhundert wurde die Frage nach dem Erhalt dieser Theater durch die öffentliche Hand gestellt. In diesen Debatten wurde die Förderung von kulturellen Institutionen durch öffentliche Mittel als Teil des contrat social mit dem bildungsbürgerlichen Wertekanon legitimiert, in dem der Kunst eine quasi religiöse Funktion zukam.

Kritiker hingegen sahen Theater ausschließlich als eine Einrichtung, für deren Existenz nicht der Staat, sondern die Theaterschaffenden zuständig seien, gemäß den in der Virginia bill of rights, der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, proklamierten Freiheitsvorstellungen.
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Tagung zur Konstruktion von "kulturellem Erbe"
5. Internationaler Kongress des Forschungsprogramms "Orte des Gedächtnisses": "Kulturerbe. Repräsentation, Fabrikation, Vermarktung", Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW), Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, in Kooperation mit der österreichischen UNESCO-Kommission.
Zeit: 6.-8. November 2003
Ort: ÖAW, Theatersaal, A-1010 Wien, Sonnenfelsgasse 19/1
->   Weitere Informationen in science.ORF.at
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Heute: Zunehmend private Finanzierung
In der postmodernen Gesellschaft wird die bis in die 1990er Jahre im deutschsprachigen Raum weitgehend selbstverständliche Verpflichtung zum Erhalt der Theater durch den Staat zunehmend zu einem unfinanzierbaren Luxus umdefiniert und einem durch privates Sponsoring getragenen Selbsterhalt überantwortet.

Während die politische Kultur eine immer engere Verbindung mit Visualität und Theatralik einzugehen scheint, die performance von PolitikerInnen wichtiger erscheint als politische Inhalte, wird das Theater als multi-künstlerisches Medium mit ausgesprochener Sprachdominanz als öffentlich zu förderndes Gut zunehmend als entbehrlich betrachtet.
Das Theater als Ort der Tradition ...
Betrachtet man Theater als einen Verwalter der Traditionen einer Gesellschaft, als Medium des kanonisierten kulturellen Erbes an Wissen, so holt es die Vergangenheit in eine erweiterte Gegenwart.

Theater spielt mit den kulturellen Formungen sozialer Erinnerung und indiziert so das Normen- und Wertesystem einer Gruppe. Als kollektiver Speicher enthält Theater die mythisch-kulturellen, geschichtlichen und sprachlichen Traditionen, die durch Erinnerung neu aktiviert werden.
... und des Widerstandes
Heute hat Theater mit dem in der posttraditionellen Gesellschaft immer radikaler eintretenden Prestigeverlust von Tradition und Bildung einerseits und der Bilddominanz gegenüber der Sprache andererseits zu kämpfen.

Böte ein Kulturerbeprädikat, wie es August Everding für die deutsche Theaterlandschaft gefordert hatte, der deutschsprachigen Theaterlandschaft eine Alternative? - Vielleicht würde es das Bewusstsein schärfen, dass Kunst und allen voran Theater jedenfalls das humanistische Widerstandspotential der in der Tradition verwahrten Mythen gegen die neoliberale Herrschaft von Markt und Kapital zu reaktivieren vermag.
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Informationen zur Autorin: Elisabeth Großegger
Elisabeth Großegger ist Theaterwissenschaftlerin an der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
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->   Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der ÖAW
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Hintergrund: Weltkulturerbe - materialisiertes Gedächtnis für zukünftige Erinnerung
Gedächtnis und Erinnerung gehört nicht nur zu einem wichtigen Paradigma der gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Forschung, Gedächtnis und Erinnerung ist auch im politischen Diskurs zu einer dominanten Denkfigur avanciert, mit deren Hilfe immer häufiger Handlungen im sozialen Raum legitimiert werden. Vor dem Hintergrund der Krisenerfahrungen des 20. Jahrhunderts und der Globalisierung, die durch weltweite kulturelle Vernetzungen und Differenzierungen real und virtuell erfahren wird, spielt nicht nur die Betonung der "Rettung" lokaler, nationaler kultureller Traditionen als identitätsstiftende Faktoren eine zunehmend wichtige Rolle, vielmehr werden vereinzelt lokal bzw. national erinnerte Traditionen als universell verbindlich erklärt und damit auf die Ebene des Globalen (Weltkultur) transferiert.

Historisch betrachtet entstand die Überlegung, kulturelle Artefakte zu einem nationalen Erbe (Patrimoine) zu erklären (zunächst durch Edouard Pommier im Jahre 1790) als eine Folge der radikalen Veränderungen, die die Französische Revolution ausgelöst hatte. Bis in die Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts war überwiegend von Kunstdenkmälern die Rede, die nach ihrem Alter klassifiziert wurden und deren Pflege vornehmlich Aufgabe der öffentlichen Hand war. 1972 entstand die Konvention für das Kultur- und Naturerbe der Menschheit, deren ausführendes Organ die UNESCO (ICOMOS) wurde; diese hatte bereits 1945 in ihre Verfassung den Schutz und die Erhaltung des Kultur- und Naturerbes festgeschrieben. 1985 wurde der Terminus Kulturerbe (Patrimoine, Cultural Heritage) vom Europarat übernommen bzw. verwendet (Kongress von Granada) und ist seit damals zu einem weltweiten Schlagwort nationalen kulturpolitischen Handelns geworden. Seit dem Jahre 2002, das als United Nations Year of Cultural Heritage ausgerufen worden war, besteht auch die Möglichkeit, Immaterielles als Weltkulturerbe zu definieren (Istanbul Declaration).
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01.01.2010