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ORF ON Science :  News :  Leben .  Umwelt und Klima 
 
Evolution des Menschen: Faktor Klimawandel?  
  Sucht man nach einem Merkmal, das den Menschen vom Rest des Tierreichs abhebt, dann ist das vermutlich seine außerordentliche Unabhängigkeit gegenüber den Launen der Natur. Als Ursache dieser biologischen Wendigkeit werden gewöhnlich schrittweise Anpassungen an die ökologischen und sozialen Lebensbedingungen in den Savannen Ostafrikas genannt. Nach einer alternativen Hypothese war es hingegen das stetig wechselnde Klima, das den Mensch zum Menschen machte.  
Wie auf einem aktuell stattfindenden Kongress der "Geological Society of America" (GSA) berichtet wurde, sprechen eine Reihe paläontologischer Daten für letzteren Fall: Nach der "variation selection hypothesis" waren die unwägbaren Lebensbedingungen während der letzten sechs Millionen Jahre der entscheidende Faktor in der Evolution des Menschen.
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Bei der Session "The Paleoenvironmental and Paleoclimatic Framework of Human Evolution" berichteten Experten verschiedener Fachgebiete vom aktuellen Forschungsstand zum Thema Umwelt, Klima und Hominidenevolution.
->   Zu den Vorträgen (GSA)
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Mensch: Großmeister der Generalisten
Die Ansicht, dass der Mensch ein äußerst flexibles Lebewesen darstellt, ist schon seit langer Zeit fester Bestandteil der biologischen Literatur.

Diesen Umstand drückt man gerne durch die Wendung aus, dass Homo sapiens genau eine ausgeprägte Spezialisierung aufweise: nämliche jene, besonders unspezialisiert zu sein.

Der Vorteil dieser Überlebensstrategie liegt auf der Hand: Sie macht unabhängig gegenüber den Launen der natürlichen Lebensbedingungen.
Die Savannen-Hypothese
Klassischer Weise wird das durch so genannte Habitat-spezifische Theorien erklärt. Die bekannteste ist vermutlich die Savannen-Hypothese, der zufolge etwa die zweibeinige Fortbewegung der Vormenschen im Rahmen des Übergangs von baumlebender Lebensweise zu jener im offenen Grasland entwickelt wurde.

Gemäß der klassischen Lehrmeinungen schlossen sich dann Kaskaden weiterer Änderungen an; so etwa Werkzeuggebrauch, Wechsel der Ernährungsweise, ein komplexeres Sozialgefüge sowie die Vergrößerung des Hirnvolumens.
Kontinuierlicher Evolutionstrend?
Diese Erklärungsansätze werden schließlich durch die Idee geeint, dass sich die Vorläufer des modernen Menschen schrittweise an die Bedingungen ihrer Lebensräume angepasst haben und somit einem langfristigen Evolutionstrend gefolgt sind.
Alternative Hypothese: Fortschritt durch Wechsel
Gemäß der erstmals 1996 vorgestellten "variation selection hypothesis" ist jedoch das Gegenteil der Fall.

Dieses vom amerikanischen Paläontologen Rick Potts entwickelte Konzept besagt, dass die dauernd wechselnden Klima- und Umweltbedingungen Ostafrikas während der letzten sechs Millionen Jahre die typisch menschliche Flexibilität zu verantworten haben.

Demnach wurden die Vorläufer von Homo sapiens aufgrund der Unvorhersehbarkeit der Lebensverhältnisse gewissermaßen zu Generalismus getrieben.
Generalisten verdrängen Spezialisten
Wie Rick Potts in einem 2001 erschienenen Aufsatz erklärt, haben Lebewesen im Prinzip drei Möglichkeiten, um auf klimatische Regellosigkeiten zu reagieren: durch Mobilität, Anpassungsfähigkeit, oder - im schlechtesten Fall - Aussterben.

Nach seiner Ansicht bedienten sich die Urmenschen während des Plio- und Pleistozäns der zweiten Strategie. Unterstützt wird dies nach seinen Angaben z.B. durch den Nachweis, dass es während dieser Zeit tatsächlich massive klimatische Umbrüche auf verschiedenen Zeitskalen gab.

Als Reaktion darauf wird ein Faunenwechsel gedeutet, der sich während der letzten 400.000 bis 800.000 Jahre ereignete. Dabei wurden spezialisierte Zebra-, Pferde- und Elefantenspezies durch nah verwandte, generalistische Arten verdrängt.
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Der Aufsatz "Complexity and Adaptability in Human Evolution" von Richard Potts wurde 2001 bei der Konferenz "Development of the Human Species and Its Adaptation to the Environment" vorgestellt.
->   Zum Originalartikel (pdf-Datei)
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Einige Daten sprechen für herätisches Modell
Zumindest einige der auf der Tagung der Geological Society of America (GSA) präsentierten Ergebnisse können auch im Sinn von Rotts Theorie gedeutet werden:

So berichtete etwa Jonathan Guy von der Australian National University, dass sich aus Isotopenmessungen die ökologischen Bedingungen der afrikanischen Savannen der letzten vier Millionen Jahre rekonstruieren lassen. Die Daten ergeben das Bild klimatischer Instabilität und ökologischer Mosaike, aber keine einheitlichen Trends.
Savannen-Hypothese unwahrscheinlich?
William F. Ruddiman von der University of Virginia wies wiederum darauf hin, dass die klassische Savannen-Hypothese aus klimatischer Perspektive nicht gestützt werden könne. Seine Messungen deuten darauf hin, dass Wald- und Savannengebiete über lange Zeiträume gleichzeitig in Afrika existiert haben müssen.
Fossiler Beleg: Gattung Homo "schätzt" Klimawandel
Wie Rick Potts in seinem 2001 erschienenen Aufsatz berichtet, folgen die 1,5 bis zwei Millionen Jahre alten Fossilfunde in der nordkenianischen Turkana-Region einem bestimmten Muster:

In Phasen hoher klimatischer Variabilität dominierten die Knochen der Gattung Homo, während in klimatisch stabilen Bedingungen jene der Gattung Paranthropus zunahmen.

Auf dem Kongress der GSA wies Potts darauf hin, dass sich nicht nur in afrikanischen, sondern auch in asiatischen Siedlungsgebieten der Frühmenschen drastische klimatische Wandel nachweisen lassen.

Wie die Organisatorin der Tagungs-Session, Gail Ashley, betont, habe man bisher nur Indizien in der Hand, die im Sinne der neuen Hypothese interpretiert werden können. Aber die Idee gewinne unter Fachleuten zunehmend an Anhängern, so die Geologin im Gespräch mit science.ORF.at
->   Geological Society of America
->   Website von Richard Potts
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01.01.2010