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Gravitationsradio: Humbug oder Weltsensation?  
  Was internationale Kooperationsprojekte mit Millionen Dollar Aufwand nicht geschafft haben, behauptet ein amerikanischer Physiker im Alleingang realisieren zu können: Den direkten Nachweis von so genannten Gravitationswellen. Das Ungewöhnliche daran: Sein bescheidener Versuchsaufbau erinnert eher an Physikbaukästen aus dem Hobbybereich denn an zeitgenössische High-Tech-Labors.  
Und dem nicht genug: Raymond Chiao von der Berkeley University behauptet weiterhin, dass es möglich sei, elektromagnetische Signale gezielt in Schwerkraftwellen um zuwandeln. Mit anderen Worten, eine Art Gravitationsradio sollte möglich sein. Ist der Mann ein Clown oder ein genialer Häretiker? Die Fachwelt ist gespalten.
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Ein Artikel über Raymond Chiao, "The gravity radio" von Michael Brooks, erschien in der Zeitschrift "New Scientist" (Ausgabe vom 8.11.03, S.38-43).
->   "New Scientist"
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Bereits Michael Faraday hatte ähnliche Ideen
Historisch betrachtet kann Raymond Chiaos Idee auf Überlegungen von Michael Faraday (1791-1867) zurückgeführt werden.

Schon der berühmte englische Chemiker und Physiker vermutete, dass es zwischen Elektromagnetismus und der Gravitation eine unentdeckte Verbindung gebe. Er führte auch Experimente in dieser Richtung aus, allerdings ohne Erfolg.
Beispiel Elektron: Prinzip nicht unplausibel
Im Prinzip ist die Idee auch aus gegenwärtiger Sicht nicht unplausibel: So besitzt beispielsweise ein Elektron sowohl eine (elementare) Ladung sowie eine - kleine, aber doch vorhandene - Masse (9,1 mal 10 hoch -31 kg).

Wenn also ein Elektron durch das Gravitationsfeld der Erde angezogen wird, dann muss es als bewegter Ladungsträger auch ein Magnetfeld erzeugen. Umgekehrt kann man Elektronen mit Hilfe eines elektromagnetischen Feldes beschleunigen.

Und das entspricht in groben Zügen der Lehrbuchdefinition von Gravitationswellen: Dieser zufolge senden nämlich sämtliche beschleunigten Massen Gravitationsstrahlung aus.
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Gravitationswellen: Indirekter Nachweis gelang bereits
Gravitationswellen sind Krümmungsstörungen der Raumzeit, die sich im Vakuum mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. Ihre Existenz ist eine Konsequenz von Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie aus dem Jahr 1916. Ein indirekter Nachweis dieser Vorhersage gelang anhand der Messung der Bahnfrequenz des Doppelpulsars "PSR 1913+16", die mit der Zeit abnimmt.

Man interpretiert dies als Folge eines Energieverlusts, der durch abgestrahlte Gravitationswellen bewirkt wird. Die beiden Amerikaner Russell A. Hulse und Joseph H. Taylor Jr. Erhielten für diese Entdeckung 1993 den Nobelpreis.
->   Physik-Nobelpreis 1993 (www.nobel.se)
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Direkter Nachweis steht noch aus
Ein direkter Nachweis der mysteriösen Wellen steht indes noch aus: Trotz großer internationaler Bemühungen lieferten sämtliche Messungen mit den gegenwärtig verfügbaren Messapparaten - etwa LIGO, VIRGO u.a. - nur negative Ergebnisse.

Gegen die technisch aufwändigen Großprojekte rund um die Resonanz- und Interferometer-Detektoren nimmt sich der Ansatz von Raymond Chiao wie eine Provokation aus:

Wie Michael Brooks im aktuellen "New Scientist" beschreibt, besteht das technische Equipment von Chiaos Nachweisgerät - zumindest auf den ersten Blick - aus Farbdosen, etwas Holz und einigen Styroporbechern.
->   Links zu Gravitationswellen-Detektoren (astronews.com)
Von "Star Wars" inspiriert?
Wie passt das zu der Tatsache, dass Chiao ein Physiker von Rang und Namen ist und eine Professur an der Elite-Universität in Berkeley inne hat? Ein Blick auf die Website von Chiaos Arbeitsgruppe verrät zumindest einen legeren Umgang mit den gängigen Akademismen der Forschergemeinde:

Die Gruppe teilt sich in drei Kategorien: Studenten (Pawdawn Learners"), Doktoranden ("Jedi in Training") sowie Lehrende ("Old Wise Ones"). Hat Chiao also schlichtweg zu viel Science-Fiction-Filme konsumiert oder versteckt sich hinter der Farbdosen-Gerätschaft doch mehr?
->   Chiao Group Homepage (Univ. Berkeley)
Elektromagnetismus in Gravitation umwandeln?
Die Antwort darauf geht auf das Jahr 1966 zurück. Damals übersetzte der amerikanische Physiker Bryce DeWitt Faradays Ideen in eine moderne Formelsprache und kam zu dem Ergebnis, dass die Gravitation einen Einfluss auf die Eigenschaften von Supraleitern haben müsse.

Chiao griff wiederum DeWitts Formeln auf und konnte nach einigen Umformungen einen Term isolieren, der zunächst eine physikalische Sensation ausdrückte: Demnach müssten sich Elektromagnetismus und Gravitation verlustfrei ineinander überführen lassen, und zwar vice versa.
Theorie 2002 öffentlich vorgestellt
Chiao stellte seine Kalkulationen auf einem internationalen Symposium im Jahr 2002 den Fachkollegen vor. Er verriet auch, was die entscheidenden Bauteile für einen experimentellen Nachweis seiner Idee sind:

Ein Supraleiter sowie eine Mikrowellenantenne, geschützt durch einen geschlossenen Metallbehälter. (Für letzteres können im Prinzip auch Farbdosen herhalten).
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Die Textversion des Vortrags "Superconductors as quantum transducers and antennas for gravitational and electromagnetic radiation" von Raymond Y. Chiao ist kostenfrei am Preprintserver arXiv.org abrufbar.
->   Zum Originalartikel
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Fachwelt gespalten
Paul Davies, als Buchautor seinerseits jederzeit für eine gepfefferte Spekulation gut, war von der Idee jedenfalls angetan: "It's too good to be true", meinte der britische Physiker. Wie Michael Brooks in "New Scientist" berichtet, zeigt sich in der Fachwelt folgende Tendenz: Die Jungen sind begeistert, die Älteren eher skeptisch.
Experiment verlief negavtiv
Einige Monate später führte Chiao ein Experiment zur Überprüfung seiner Theorie durch, der erwartete Effekt wollte sich jedoch nicht einstellen: Es passierte nichts.

Die Erklärung dieses Scheiterns geht aus den verschiedenen Varianten seines Artikels am Preprintserver arXiv.org hervor. Chiao hatte in der Ursprungsversion eine verborgene, aber wichtige Implikation übersehen.

Bruce DeWitts Formeln, von denen er ausgegangen war, beziehen sich nicht auf das Gravitationsfeld an sich, sondern nur auf das so genannte Lense-Thirring-Feld.
Diskussion führt zu Einschränkungen
Wie Michael Brooks in seinem Artikel ausführt, führten die darauf folgenden technischen Diskussionen um das ursprünglich so einfache wie geniale Prinzip zu weiteren Einschränkungen.

Die direkte Verbindung von Elektromagnetismus und Schwerkraft dürfte nur in ganz kurzen Entfernungen nachzuweisen sein. Außerdem ist auch die erhoffte verlustfreie Umwandlung nicht zu realisieren.
"There is something there"
Mit dem Gravitationsradio Marke Eigenbau wird es daher wohl nichts werden. Aber grundsätzlich spricht wenig dagegen, dass Chiaos Ideen dereinst mit verfeinerten technischen Mittel bestätigt werden.

Und dann hat sich das Risiko, so früh an die Öffentlichkeit zu gehen, durchaus gelohnt. Er zeigt sich gegenüber "New Scientist" jedenfalls ungebrochen optimistisch: "There is something there", insistiert Chiao: "There is something there".

Robert Czepel, science.ORF.at
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01.01.2010