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Gedenktafel erinnert an das "Gefängnis Praterstadion"  
  Im September 1939 wurden über tausend Juden im Wiener Praterstadion von den Nationalsozialisten inhaftiert und von dort ins KZ Buchenwald deportiert. An dieses dunkle Kapitel in der Geschichte der Stadt soll am Donnerstag mit der Enthüllung einer Gedenktafel für die Opfer erinnert werden. Der Historiker und Initiator der Gedenktafel David Forster beleuchtet in einem Gastbeitrag die Hintergründe.  
Haftort: Praterstadion
von David Forster

Mai 2003, im Cafe des Naturhistorischen Museums: Gershon Evan, der früher Gustav Ziegler geheißen hatte, erzählt. In diesem Haus werden bis heute eine Gipsmaske und ein Foto von ihm aufbewahrt, die vor 64 Jahren im Zuge einer "rassekundlichen" Untersuchung angefertigt worden waren.

Der 80-jährige Zeitzeuge lässt mit leiser Stimme das Wien seiner Jugend wieder aufleben, seine 1944 in Auschwitz ermordeten Eltern, die Streifzüge durch seine Heimatstadt und die Helden der Abenteuergeschichten und Kinofilme, die ihn damals begeisterten.

Zwei Tage zuvor war ich mit ihm an jenen Ort zurückgekehrt, an dem er 1939 als "polnischstämmiger Jude" gefangen gehalten worden war: das heutige Ernst-Happel-Stadion.
Verhaftung nach dem Überfall auf Polen
Unmittelbar nach dem Überfall der Deutschen Wehrmacht auf Polen verfügte Reinhard Heydrich, der Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, die Verhaftung aller männlichen Juden, die entweder polnischer Staatsangehörigkeit waren oder als Staatenlose dort ihr Heimatrecht besaßen.

Im Zuge einer großangelegten Verhaftungswelle wurden über tausend in Wien lebende Juden überfallsartig festgenommen. Am Morgen des 9. September 1939 wurde auch der 16-jährige Gustav Ziegler, der mit seiner Familie im geplünderten und geschlossenen Geschäft der Eltern lebte, verhaftet. Ein Gestapo-Mann und die SS brachten Gustav und seinen Vater ins Gefängnis.
Gefangen im Praterstadion

Sektor B des Praterstadions
Nach einigen Tagen in verschiedenen Wiener Gefängnissen transportierte die Polizei Gustav Ziegler und seine Leidensgenossen ins Praterstadion.

Die Häftlinge wurden in den Gängen von Sektor B des zwischen 1928 und 1931 erbauten Stadions, einem Prestigeobjekt des "Roten Wien" mit einem Fassungsvermögen von 60.000 ZuschauerInnen, untergebracht. Einmal am Tag erhielten die Internierten eine Suppe und ein Stück Brot, nächtigen mussten sie auf Strohlagern unter den Tribünen.
"Rassekundliche" Forschungen
Am 25. September 1939 begann eine Kommission unter der Leitung von Dr. Wastl, dem Kustos der anthropologischen Abteilung im Naturhistorischen Museum Wien, mit "rassekundlichen" Forschungen an 440 der im Praterstadion inhaftierten Juden, darunter auch Gustav Ziegler. Dabei wurden u.a. die Kopflänge und -breite sowie die Hand- und Fußlänge festgestellt und Fotos angefertigt.
Deportation nach Internierung im Stadion
Rund drei Wochen nach ihrer Festnahme, am 30. September 1939, wurden die Internierten direkt vom Praterstadion zum Westbahnhof gebracht, wo einige wenige Männer entlassen wurden. Den Großteil der Gefangenen pferchte die SS unter Prügeln in Viehwaggons.

Während sich Gustav Ziegler auf dem Transport ins Konzentrationslager Buchenwald befand, wurde im Praterstadion schon wieder Fußball gespielt.
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Häftling Nummer 7439 - einer der wenigen Überlebenden
Als Häftling Nummer 7439 musste er Zwangsarbeit leisten, er erlebte Misshandlungen, Hunger, Krankheiten, Kälte und den Tod zahlreicher Mitgefangener. Von den 1.038 Menschen aus Gustav Zieglers Transport wurden 44 entlassen, nur 27 erlebten im Jahr 1945 die Befreiung. Gustav konnte nach seiner Entlassung im Februar 1940 auf abenteuerlichen Wegen ins rettende Palästina fliehen.
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Aufarbeitung der "NS-Anthropologie" seit den 90ern
Seit Ende der 90er Jahre wird die Geschichte der anthropologischen Untersuchung von Juden im Praterstadion im FWF-Projekt "Anthropologie im Nationalsozialismus" am Naturhistorischen Museum (NHM) aufgearbeitet.

Eine Gedenktafel für die inhaftierten und deportierten Juden im Ernst-Happel-Stadion gab es jedoch bislang nicht. Im März 2003 begann ich daher mit der MA 51 (Sportamt) Gespräche in dieser Sache.
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Buchtipp
Gershon Evan: Winds of Life. The destinies of a young viennese jew 1938 - 1958 (Ariadne Press, 2000)
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Gedenktafel: Zeichen gegen das Vergessen
Innerhalb weniger Wochen unterstützten rund 600 Menschen, darunter der Bundespräsident, der ÖFB-Präsident und die Parteichefs von SPÖ und Grünen, mein Anliegen. Am 24. Juni beschloss der Wiener Gemeinderat einstimmig die Anbringung der Tafel und forderte die zuständigen Stellen zur engen Kooperation mit mir als dem Vertreter der Initiative auf.

Am 13. November wird die Gedenktafel in Anwesenheit von Opfern und Hinterbliebenen durch den Bürgermeister enthüllt. Gershon Evan, der seit 1958 in den USA lebt, kann leider nicht an der Veranstaltung teilnehmen, aber er kann sich sicher sein: Die Gedenktafel ist kein Schlusspunkt unter die Erinnerung, sondern ein Zeichen gegen das Vergessen.
->   Forschungsprojekt "Anthropologie im Nationalsozialismus" (NHM)
->   Mehr über das Forschungsprojekt (Uni Klagenfurt)
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Zum Autor:
David Forster, geboren 1972 in Wien, studierte Politikwissenschaft und Geschichte. Er war Mitarbeiter der Historikerkommission der Republik Österreich und im Projekt "Österreichische Opfer der NS-Militärgerichtsbarkeit". 2003 betätigte er sich als Lehrbeauftragter an der Universität Wien und am Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie.
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->   Historikerkommission: NS-Entschädigung oft nur halbherzig (24.2.03)
->   Die Opfer des NS-Vermögensraubs (25.2.03)
 
 
 
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01.01.2010