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"Tabuthema Manie": Manisch-Depressive im Focus  
  Rund fünf Prozent der Österreicher haben manisch-depressive Störungen, Betroffene gelten oft als "Spinner". Fachleute rufen daher zu mehr Verständnis auf. Derzeit findet in Wien ein Kongress zum Thema statt.  
Hyperaktive Gemütszustände, während derer die Betroffenen kaum mehr schlafen und irrwitzige private und geschäftliche Aktivitäten entfalten, wechseln sich bei ihnen mit tiefen Depressionen ab.
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In Wien findet derzeit die 5. Tagung der Österreichischen Gesellschaft für Neuropsychopharmakologie und Biologische Psychiatrie (ÖGBP) statt. Dabei geht es auch um das "Tabuthema Manie".

Im Rahmen der Tagung soll ein so genanntes Konsensus-Statement "Psychotische Störungen: Bipolare Störungen: Medikamentöse Therapie - State of the Art 2003" präsentiert werden.
->   ÖGPB
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Schneller Wechsel von Stimmungslagen
Dieser Wechsel der Stimmungslagen geht sehr schnell. Der Grund: Ihr Selbstregulierungssystem im Gehirn entgleitet. Aufgrund einer Stoffwechselstörung, die genetisch bedingt ist, verlieren sie die Kontrolle über ihren Gemütszustand.

Die Betroffenen gelten oft als "Spinner", weil sie plötzlich Dinge tun, die man niemals von ihnen erwartet hätte. Etwa Unmengen an Geld ausgeben, obwohl sie vorher extreme "Sparmeister" waren.
Regulation des Selbstwertgefühles außer Kontrolle
"Bei jedem Menschen wird das Selbstwertgefühl von inneren und äußeren Einflüssen gesteuert und unterliegt gewissen Schwankungen", erklärt dazu Rainer Danzinger, Psychiater an der Landesnervenklinik Sigmund Freud in Graz.

"Enttäuschungen, Todesfälle oder Krankheiten lösen depressive Stimmungen aus. Erfolgserlebnisse, Lotteriegewinne oder Verliebtheit bewirken eher leicht manisch-euphorische Zustände. Dieses System der Regulation des Lebensgefühls gerät bei manisch-depressiven Menschen außer Kontrolle."

In Gesprächen mit Patienten erkenne man, dass die innere Regulation des Selbstwertgefühles entweder die Bremsen der Selbstkritik zu stark angezogen habe oder dass es zu einer vollständigen Enthemmung und Antriebssteigerung komme, so der Fachmann.
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Genetische Ursachen der bipolaren Störung
Die manisch-depressive Erkrankung, die Psychiater bezeichnen sie auch bipolare Störung, hat genetische Ursachen. Bestimmte Hirnregionen sind bei den Betroffenen verändert. Das lässt sich mit bildgebenden Verfahren sichtbar machen. Neurotransmitter und bestimmte Hormonsysteme sind aus dem Gleichgewicht gefallen und es kommt zu Fehlprogrammierungen.

Das soziale Erscheinungsbild einer Person kann sich dadurch vollständig verändern. Eine angepasste, eher zurückhaltende 40-jährige Dame, die ihr Leben lang eine unauffällige graue Maus war, beginnt zum Beispiel während einer manischen Phase sich grell und auffallend zu schminken, kleidet sich bunt und redet wie ein Wasserfall. Oder eine junge Frau aus gutbürgerlichen Verhältnissen beginnt plötzlich, sich in dubiosen Lokalen herumzutreiben und betätigt sich als Prostituierte.
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Beispiel Pablo Picasso
Manisch-depressive Menschen sind oft extrem kreativ. Der Maler Pablo Picasso etwa hatte eine leichte Form der manisch-depressiven Störung, "Rapid Cycling" genannt.

Am Vormittag war Picasso wie gelähmt, lustlos und konnte nichts arbeiten. Nachmittags und in den Abendstunden hingegen war ein überaus produktiver, fast getriebener Künstler.
Geschäftliche Erfolge kontra Ruin
Leichte hypomanische Zustände können auch zu geschäftlichem Erfolg führen. Manisch-depressive Menschen sind oft erfolgreich, weil sie leichter Risiken eingehen. Auf der anderen Seite können sie dadurch ihre ganze Familie in den Ruin treiben.

So hat ein betroffener Mann zum Beispiel 70 Jaguar-Limousinen bestellt. Ein anderer Mann, der tagsüber seine Familie zu extremer Sparsamkeit zwang, schmiss abends Lokalrunden im Gasthaus.
Hohe Selbstmordrate unter Erkrankten
Rund 90 Prozent der Manisch-Depressiven werden nicht behandelt, weil sie nicht erkennen, dass sie krank sind. Es dauert durchschnittlich zehn Jahre, bis sie einen Arzt aufsuchen.

Viele haben aufgrund ihrer Stimmungsschwankungen private Probleme und Schwierigkeiten am Arbeitsplatz. Sie sind meist diejenigen, die zuerst gekündigt werden. Viele haben auch ein Alkoholproblem.

Häufig richten unbehandelte oder zu spät behandelte manische Erkrankungen schwere soziale Verwüstungen an. Diese können die Betroffenen nach Abklingen der Krankheitsphase sogar in den Selbstmord treiben. Die Selbstmordrate ist unter ihnen extrem hoch. 40 Prozent der Kranken verüben Selbstmordversuche, 15 Prozent sterben daran.
Enttabuisierung und mehr Verständnis
Mehr Verständnis könnte den Betroffenen helfen. Allerdings ist die Krankheit wie so viele psychische Erkrankungen ein Tabuthema. Man spricht nicht darüber und stempelt die Betroffenen als "Spinner" ab.

Die Psychiater wünschen sich, dass offener über die Krankheit gesprochen wird. Für einen Herzinfarkt bringt man Verständnis auf. Für eine Manie nicht. Die Belastungen durch die Störung ist für die Betroffenen aber genauso stark wie jene durch eine Multiple Sklerose oder andere chronische Krankheiten.

Mit neuen Medikamenten kann den manisch-depressiven Menschen heute leicht geholfen werden. Die meisten müssen allerdings ihr Leben lang behandelt werden. Denn sie befinden sich die Hälfte ihres Lebens in diesem Zustand.

Edith Bachkönig, Ö1-Wissenschaft
->   Infos zu Depression und Manie in www.medicine-worldwide.de
->   Alles zum Stichwort Depression in science.ORF.at
 
 
 
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01.01.2010