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Symbolik des Sport zwischen den Weltkriegen  
  In den 1920er Jahren ändert sich der Sport grundlegend - er wandelt sich von der elitenkulturellen Aktivität zum Massenfaszinosum und wird Bestandteil der populären Alltagskultur. Welche Symbolik, Werte, Eigenschaften aber auch politischen Haltungen der Sport von diesem Zeitpunkt an transportierte, hat der Germanist Kai Marcel Sicks anhand von zeitgenössischer Literatur untersucht.  
"Dichter, Trainiert Euch im Schwimmen!"
Sport und Literatur zwischen den Weltkriegen

Von Kai Marcel Sicks

Sport in den 1920er Jahren - das ist eine kulturelle Praxis in dauernder Veränderung: Sport wandelt sich vom Hobby zum Beruf, erkämpft sich einen Stammplatz in Tageszeitungen und im Radio und differenziert zunehmend sein Disziplinensystem aus.

Vor allem aber: In der Weimarer und Ersten Republik löst sich der Sport von den Rändern sub- und elitenkultureller Aktivität und wird zu einem Faszinosum für die Massen. Mit seinem Aufstieg zu einem zentralen Bestandteil der popularen Alltagskultur bildet der Sport zugleich eine eigene symbolische Ordnung aus.

Welche Bedeutungen sind aber mit ihm verknüpft? Welchen Sinn vermittelt der Sport? Um diese Fragen drehen sich die folgenden Überlegungen.
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Vortrag zu diesem Thema im IFK
Kai Marcel Sicks hält zu diesem Thema am 17. November 2003 um 18 Uhr am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften (Reichsratsstraße 17, 1010 Wien) einen Vortrag.
->   IFK
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Literatur als Quelle
Soll die symbolische Ordnung des Sports in den 1920er Jahren heute greifbar werden, so bietet sich die Untersuchung eines Mediums an, dessen Relevanz in diesem Zusammenhang eher überrascht: der Literatur.

Begierig nimmt sich die narrative Prosa der Weimarer und Ersten Republik des Sports an und beginnt eine intensive Arbeit an seiner Semantik. Sportroman und Sporterzählung etablieren sich als eigenständige Genres:

Bertolt Brecht (Das Renommee - Ein Boxerroman), Ödön von Horvath (Sportmärchen), Marieluise Fleißer (Eine Zierde für den Verein), aber auch zahlreiche heute vergessene Autorinnen und Autoren tragen dazu bei.
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Fiktional, dennoch Hinweis auf Alltagswahrnehmung
Die Repräsentationen des Sports in der Literatur sind für die aufgeworfene Fragestellung ausgesprochen aussagekräftig: Zwar handelt es sich bei ihnen um fiktionale Konstrukte, die im Einzelfall vom alltäglichen Sporttreiben weit entfernt sein können. Literarische Lektüren beeinflussen aber den gewohnten Blick auf die soziale Bedeutungstextur und informieren über Alltagswahrnehmungen. Trotz ihrer Fiktionalität bildet Literatur deshalb im Reich der Kultur keine autonome Enklave, sondern einen zentralen Umschlagplatz, d.h. eine durchaus bedeutende Instanz bei der Herstellung von Kultur als eines "selbstgesponnenen Bedeutungsgewebes" (Clifford Geertz).
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Offen für unterschiedlichste Zuschreibungen
Betrachtet man die unterschiedlichen Repräsentationen des Sports in der Literatur der Zeit, so lassen sich zwei zentrale Tendenzen zusammenfassen. Erstens: Sport ist in literarischen Texten offen für Zuschreibungen unterschiedlichster Herkunft.

Offenkundig bringt er kaum genuine Sinndispositionen ins literarische Spiel der Bedeutung ein - vielmehr repräsentiert er ausgesprochen kontrastive Einstellungen, Werte und Eigenschaften. Die Identität der Sportlerin oder des Sportlers ist in der Literatur weder hinsichtlich ihrer nationalen und regionalen noch ihrer sozialen, politischen oder geschlechtlichen Position determiniert.
Beispiel politische Codierung: Deutschtümelei ...
An der politischen Codierung des Sports lässt sich das demonstrieren. Dass der Sport für eine politische Haltung steht, hat im deutschen Sprachraum eine lange Tradition: So entsteht etwa die Turnbewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts als eine in erster Linie politisch-weltanschauliche Vereinigung, die sich der Durchsetzung liberaler Werte und eines deutschen Nationalstaats verschrieben hat.

In den 1920er Jahren hat sich die Turnbewegung in Fachverbänden und Vereinen sowie einer eigenen Presse institutionalisiert und pflegt dabei eine militaristische und deutschnationale Ideologie. Hier mag eine Wurzel dafür liegen, dass der Sport auch in der Literatur zum Zeichenarsenal deutschnationaler Gesinnung gerät.

Während dabei das Training unter dem intensiven Einsatz von Kriegs- und Schlachtenmetaphorik als militärische Disziplinierungsmethode gezeichnet wird, erscheint der sportliche Wettkampf als Forum für die Demonstration einer als männlich und deutsch konnotierten Kraft, dem sich alles Schwache ("Verweiblichte") unterwerfen muss. Auf ironische Weise setzt sich etwa Erich Kästners Gedicht Der Handstand auf der Loreley (1932) mit der Deutschtümelei des Turnens auseinander.
... aber auch "Schule sozialistischer Erziehung"
Die deutschnationale Symbolik ist aber nur ein Aspekt einer vielfältigen politischen Codierung des Sports. Andere Texte sehen im Sport eine Schule sozialistischer Erziehung: Die Sportler definieren sich dabei vor allem sozial über die Zugehörigkeit zum Proletariat und lernen über den Sport, dass es sich lohnt, im Kollektiv Einsatz und Solidarität unter Beweis zu stellen.

Der sportliche Wettkampf erscheint dann nicht mehr als phallozentrische Zurschaustellung nationalistischer Positionen, sondern als Initiation in die historische Teleologie des Klassenkampfes. Johannes R. Bechers Gedicht "Dichter, Trainiert Euch im Schwimmen!" (1930), aber auch Brechts Script zu seinem Film "Kuhle Wampe" (1932) inszenieren den Sport in eben diesem Sinne.
Sportler als Prototyp des "zukünftigen Menschen"
Zweitens aber lässt sich trotz aller Widersprüchlichkeit der dem Sport zugewiesenen Konnotate ein Aspekt ausmachen, in dem die literarischen Vertextungen des Sports in der Zwischenkriegszeit konvergieren.

Durchgängig erscheinen die Sportlerin und der Sportler als Vorboten einer "neuen Zeit", als Prototypen eines "zukünftigen Menschen". Die Sporttreibenden sind stets Menschen, die auf die sozioökonomischen Herausforderungen der Moderne reagieren und sie verarbeiten.

Urbanität und maschinisierte Industrie, soziale Not und politische Unsicherheit, kapitalistischer Leistungsdruck und rationalistische Zweckorientierung - Sportlerin und Sportler haben diese spätmoderne Formation immer schon inkorporiert und entwickeln in Relation zu ihr ihre spezifischen Identitäten.
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"Repräsentant des modernen Zeitgefühls"
Marie-Luise Fleißers Behauptung von 1930, mit der sie ihren Aufsatz "Sportgeist und Zeitkunst - Essay über den modernen Menschentyp" einleitet, lässt sich daher als Programmatik der Sportliteratur verstehen: "Wenn heute Personen vor die Aufgabe gestellt werden, jenen Menschentyp zu nennen, der ihnen der Repräsentant des modernen Zeitgefühls zu sein scheint, so nennen die Orientierten unter ihnen den Sportsmann. Die Tatsachen geben ihnen recht."
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Sport als Kulturtechnik der Moderne
Die Untersuchung der Sportliteratur in der Zwischenkriegszeit bietet damit aber mehr als eine Antwort auf die Eingangsfrage nach der symbolischen Ordnung des Sports. Sie lässt sich zugleich als eine These über den Aufstieg des Sports zu einem Massenphänomen lesen.

Die Erkenntnis, dass Sport in der Literatur der Zwischenkriegszeit als eine repräsentative Kulturtechnik der Moderne imaginiert wird, macht dann deutlich: Welcher Sinn auch immer über den Sport transportiert wird (und der Vielfalt sind hier, wie angedeutet, kaum Grenzen gesteckt) - immer erscheint dieser Sinn dabei als neu, modern, auf der Höhe der Zeit.

Es ist dies eine Eigenschaft des Sports, die sich nicht nur in der Literatur niederschlägt, sondern die auch von vielfältigen sozialen Akteuren im Rahmen unterschiedlichster Identitätspolitiken genutzt wird.
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Informationen zum Autor: Kai Marcel Sicks
Kai Marcel Sicks, Mag. phil., Studium der Germanistik und Politikwissenschaft in Frankfurt/Main und Wien, Aufbaustudium Kulturmanagement an der Fernuniversität Hagen. Tätigkeit als freier Journalist bei der "Taunus-Zeitung"/"Frankfurter Neue Presse", Pressearbeit bei der Messe Frankfurt (IAA) und am Staatstheater Mainz. Derzeit Doktoratsstudium der Germanistik in Wien.

2003/2004 IFK_Junior Fellow mit dem Projekt: "Dichter, trainiert Euch im Schwimmen!" Zur Begegnung von Sport und Literatur zwischen den Weltkriegen.
Publikation: Vom Ende der Narration im Roman. Untersuchungen zu einem gattungspoetologischen Paradigma der Zwischenkriegszeit (Wien 2002).
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01.01.2010