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Schlammschlacht unter Wissenschaftlern  
  Hinter der Behauptung, der älteste Vorläufer des Menschen sei gefunden worden, steht ein erbitterter Streit um Ausgrabungsstätten in Kenia. Die Entdecker der alten Knochen krachen dabei gegen einige der größten Namen aus der Paläoanthropologie.  
Wo die Wahrheit liegt, ist schwer zu ermessen. Und schließlich scheint das öffentliche Bild der Zunft in diesem Streit der Hauptverlierer zu sein, nachzulesen in der jüngsten Ausgabe von "Nature".
Von der Grabungsstätte verhaftet
Ein Jahr ist eine lange Zeit in der kenianischen Paläoanthropologie. Im März 2000 wurde der kenianisch-britische Wissenschaftler Martin Pickford verhaftet und musste fünf Tage in einem kenianischen Gefängnis verbringen. Gegen ihn wurde die Klage erhoben, ohne offizielle Erlaubnis gegraben zu haben.

Nun ist er der stolze Ko-Autor eines wissenschaftlichen Beitrags, in welchem der "Orrorin tugenensis", der so genannte "Millennium-Mensch" beschrieben wird. Der Fund ist sechs Millionen Jahre alt und wurde von Pickford und seinen Kollegen als der älteste Vorfahre des Menschen präsentiert.
Unbefugtes Buddeln?

Diese Behauptung hat eine heftige Debatte losgetreten. Nicht das Alter von Orrorin steht in Frage, doch bezweifeln einige Wissenschaftler, ob er tatsächlich zu den Vorfahren des Menschen gezählt werden soll.

Die wissenschaftliche Kontroverse ist erst der Anfang. Kaum hatten Pickford und sein Team den Fund bei einer Pressekonferenz im Dezember vergangenen Jahres bekannt gegeben, beschuldigte ihn Andrew Hill, Vorsitzender des Instituts für Anthropologie an der Yale University, unbefugt auf seiner Grabungsstätte in Tugen Hills, Kenia, gebuddelt zu haben.

Pickford streitet dies ab. Er behauptet, dass Richard Leakey, ehemaliger Generaldirektor der National Museums in Kenia und bis vor kurzem Vorstand des Öffentlichen Dienstes in Kenia, die Verhaftung im letzten Jahr angezettelt habe. Derzeit läuft eine Klage Pickfords gegen diesen wegen daraus entstandener Schäden.
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Gartenzaunstreit
Dieser Streit bietet einen flüchtigen Eindruck der erbitterten Rivalitäten, die sich zwischen Forschern entzünden können, wenn es um die Rechte an Forschungsstätten mit kostbaren Fossilien geht, und wie sich diese Rivalitäten auf die Politik der Gastländer auswirkt.
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Die hässliche Seite der Paläoanthropologie
Obwohl dies kein Einzelfall ist, bedeutet die Tatsache, dass in den Streit um Tugen Hills ein derart prominenter Wissenschaftler wie Leakey involviert ist, dass auch diese hässliche Seite der Paläoanthropologie an die Öffentlichkeit dringt.
Forschen in Kenia
Wissenschaftler, die in Kenia paläoanthropologische Forschungen unternehmen möchten, müssen sich eine Genehmigung der Regierung beschaffen. Darüber hinaus müssen sie mit einer offiziellen kenianischen Forschungsorganisation zusammenarbeiten. Früher hatten die National Museums diese Rolle inne.

Ein häufiger Vorwurf ob dieser Praxis ist, dass über die Jahrzehnte die Leakey-Familie mehr oder weniger die Kontrolle darüber hat, wer in Kenia paläoanthropologische Forschungen machen darf.
->   National Museums of Kenya
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Der Leakey-Clan
In den 30er Jahren begründete Louis Leakey mit seiner Frau Mary, auch einer renommierten Paläoanthropologin, die Dynastie. Deren Sohn Richard führt mit seiner Frau Meave die Linie fort. Meave ist derzeit Leiterin der paläoanthropologischen Abteilung des National Museums.
->   The Leakey Foundation
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Pickford Opfer der Machtkonzentration?
Pickford meint schon seit langem, Opfer dieser Machtkonzentration zu sein. In den 70er Jahren arbeitete er in Kenia an seiner Dissertation über einen Backenzahn, von dem er behauptet, dass er von einem anderen Exemplar des Orrorin stamme. Doch 1985 kamen Pickfords Forschungen in Kenia zu einem abrupten Halt, als Richard Leakey ihn aus den National Museums ausschloss, nachdem behauptet worden war, Pickford habe Schriftstücke aus dem Museen entwendet.

Leakey, der vor rund einer Woche sein Amt im kenianischen Staatsdienst niederlegte, trat 1989 schon als Generaldirektor der National Museums zurück. Doch Pickford kehrte erst 1998 nach Kenia zurück, nachdem er in Andrew Kiptoon, dem Wissenschaftsminister, einen Verbündeten gefunden hatte.
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Kafkaeske Geschichte
In einem Brief vom 3. Juni 1998 lud Kiptoon Pickford ein, das archäologische und paläontologische Potential in Tugen Hills zu entwickeln.

Von diesem Punkt an bekommt die Geschichte kafkaeske Züge. Pickford erhielt eine Forschungserlaubnis am 30. Oktober 1998. Doch Andrew Hill weist auf einen Brief vom 2. November 1998, der die Erlaubnis mit der Begründung widerruft, der Antrag sei nicht ordnungsgemäß gestellt worden.

Im März 2000 holten die Polizei und Beamte der National Museums Pickford von seinem Feld. Er wurde der illegalen Ausgrabungen bezichtigt und verhaftet. Mitte April jedoch kam das Verfahren gegen ihn zu einem Halt, als Kenias Kronanwalt die Strafverfolgung dazu veranlasste, die Anklage fallen zu lassen.
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Die Schlammschlacht
Pickford klagt nun gegen Leakey, die National Museums und den Kronanwalt wegen gesetzeswidriger Festnahme, Haft und arglistiger Belästigung.

Hill und Pickford tauschen regelmäßig Anschuldigungen aus. In einem Artikel in "Science" im Dezember (Science 290, 2065) beschreibt Hill Pickfords Anwesenheit in Tugen Hills als "höchst ordnunsgwidrig". In diesem Artikel wird die Geschichte des Entzugs von Pickfords Forschungserlaubnis berichtet, welche wütende Reaktionen Pickfords hervorrief.

Doch auch Pickford hat seine Gegner gereizt: 1995 schrieb er gemeinsam mit einem Kollegen ein Buch, "Richard E. Leakey: Master of Deceit" - Meister des Betrugs, auf das wilde Angriffe gegen Leakey und einige andere führende Anthropologen folgten.

"Es ist schwer zu beurteilen, wer hier die Wahrheit sagt", meinte ein amerikanischer Forscher zu dem Streit. Doch während die Anschuldigungen weiter aufeinander prallen, könnte das öffentliche Ansehen der Paläoanthropologie den meisten Schaden nehmen.

(red)
Über die Funde, um die es in diesem Artikel geht, lesen Sie mehr auf science.orf.at
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Der Artikel erschien unter dem Titel "The battle of Tugen Hills" in "Nature" 410, 508-509, 2001.
->   Zum Artikel (kostenpflichtig)
->   Nature
 
 
 
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01.01.2010