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Genetischer Müll durch kleine Populationsgrößen?  
  Es sind nicht nur biologische Juwelen, die von der modernen Genomforschung zutage gefördert werden: Der gängigen Lehrmeinung nach haben etwa im menschlichen Erbgut nur wenige Prozent der DNA eine echte Funktion, der Rest ist genetischer Abfall. Die Herkunft dieser "junk DNA" versuchen nun zwei amerikanische Forscher durch ein Modell zu erklären. Sie sind der Meinung, dass die relativ kleine Populationsgröße von Tieren und Pflanzen damit zu tun hat.  
Ihre Argumentation in Kurzform: Je größer ein Organismus, desto kleiner seine Fortpflanzungsgruppe. Und je kleiner diese, desto eher spielen Zufallseffekte eine Rolle in der Evolution. Deswegen beherbergen etwa Bakterien kaum Gen-Müll in ihrem Erbgut, Tiere und Pflanzen hingegen schon.
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Der Artikel " The Origins of Genome Complexity von Michael Lynch und John S.Conery erschien in der Fachzeitschrift "Science" (Band 302, S. 1401-4, Ausgabe vom 21.11.03)
->   Science
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Nur zwei Prozent codierende Sequenzen
Das menschliche Erbgut besteht aus rund zwei Milliarden Basenpaaren, aber nicht jeder dieser Buchstaben hat auch eine Bedeutung.

Nur etwa zwei bis drei Prozent der gesamten DNA beinhalten jene codierte Anweisung, anhand deren Proteine - gewissermaßen die ausführenden Organe in der lebenden Zelle - hergestellt werden können.
Der Rest: Nichts als Schrott?
Und der Rest? Die nicht-codierenden Bereiche des Erbguts bezeichnet man landläufig als "junk DNA", also genetischen Abfall. Das ist freilich nicht ganz korrekt, denn es gibt jede Menge Regionen in der DNA, die nichts mit der Proteinherstellungen zu tun haben und trotzdem lebenswichtig sind.

Regulatorische Sequenzen etwa, die Einfluss auf die Gen-Aktivität haben. Wie groß der Anteil solcher regulatorischen Bereiche ist, ist allerdings noch Gegenstand heftiger Debatten.
->   Mehr zur Junk DNA in Wikipedia
Nicht codierend heißt nicht funktionslos
So haben etwa Forscher der Universität Genf kürzlich so genannte nicht genische Bereiche auf dem Chromosom 21 bei 14 Säugetierarten verglichen.

Dabei stellten sie fest, dass diese einen äußerst hohen Konservierungsgrad aufwiesen, d.h. sich im Laufe der Evolution kaum verändert haben. Das weist grundsätzlich auf eine biologische Funktion hin, allerdings belegen solche Regionen maximal ein Prozent des gesamten Erbguts.
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Die Studie "Evolutionary Discrimination of Mammalian Conserved Non-Genic Sequences (CNGs)" von Emmanouil T. Dermitzakis et al. erschien in der Fachzeitschrift "Science" (Band 302, Seiten 1033-1035, Ausgabe vom 7.11.03)
->   Science
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Warum gibt es genetischen Müll?
Wie genau also das Verhältnis zwischen Bereichen mit bislang unbekannter Funktion und tatsächlichem genetischen Schrott bemessen ist, ist noch nicht hinlänglich klar.

Tatsache ist jedoch, dass der Schrott existiert - und das führt wiederum zu der Frage, warum sich Lebewesen einen solchen Klotz am Bein überhaupt leisten wollen.
Es kommt nur auf die Größe an
Eine Antwort darauf haben nun Michael Lynch von der Indiana University und John S. Conery von der University of Oregon vorgesellt. Dabei machten sie sich zwei biologische Daumenregeln zunutze.

Erstens gingen sie von der einfachen Beobachtung aus, dass Bakterien viel kleinere Genome besitzen, als dies bei den Lebewesen mit echtem Zellkern der Fall ist. Zur letzteren, auch Eukaryoten genannten Gruppe zählen etwa alle Tiere, Pflanzen und Pilze.
->   Mehr zu Eukaryoten bei Wikipedia
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Unterschiedliche Packungsdichte
Das spiegelt sich auch in der "Packungsdichte" der jeweiligen Genome wider: Während ein durchschnittliches Bakterium ein- oder wenige tausend Gene in sein begrenztes Erbgut stopft, verteilt der Mensch mit der selben Menge an DNA gerade mal 30 verschiedene Gene auf seinem Erbstrang.
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Kleine Tiere haben große Populationen
Mit anderen Worten, Bakterien leisten sich kaum den "Luxus" nutzloser DNA-Sequenzen, Tiere, Pflanzen und Pilze hingegen schon. Das ruft nach einer besonderen Erklärung.

Wie Lynch und Conery in ihrer aktuellen Arbeit zeigen, liegt diese in der zweiten biologischen Daumenregel, die sie für ihre Studie heranzogen.

Diese besagt, dass kleinere Organismen recht große Populationsgrößen erreichen können, während große Organismen in ihrer Zahl meist beschränkt sind.
Genetische Drift öffnet Zufall Tür und Tor
Das Prinzip ist durchaus nachvollziehbar: Elefanten werden aus trivialen Gründen nie die Zahl von Colibakterien erreichen. Worauf es hier ankommt, ist die Frage, inwieweit dieser Unterschied die Evolutionsgeschichte einer Spezies beeinflusst.

Nach Lynchs und Conerys Hypothese gibt es bei Bakterien deswegen so gut wie keine "junk DNA", weil in deren riesigen Populationen die Selektion bis heute ihre volle Kraft entfalte.

In den zahlenmäßig beschränkten Fortpflanzungsgruppen der Eukaryoten habe jedoch ein Zufallsfaktor eine wichtige Rolle gespielt, nämlich die so genannte genetische Drift.
->   Details zur Zufallsdrift (New York University)
Daten bestätigen Modell
Dadurch haben sich im Lauf der Jahrmillionen verschiedenste Mutationen ungestraft akkumulieren können, was zu einer Aufblähung des Erbguts führte.

Ein systematischer Vergleich von 30 Organismen quer durch den genetischen Gemüsegarten bestätigt im Wesentlichen das Modell der US-amerikanischen Biologen.

Große Organismen (wie etwa Fische, Menschen oder Mäuse) haben kleine, langlebige Populationen sowie insgesamt mehr Gene und "junk DNA". Alle Lebewesen, bei denen das Gegenteil der Fall ist, sind Bakterien.
Vom Guten des Schlechten
Dass die Anreicherung von Erbänderungen nicht ausschließlich nutzlos oder gar destruktiv sein muss, zeigt ein anderer Parameter:

Bei den Eukaryoten hatten duplizierte Gene im Lauf der Evolution viel länger Zeit eine neue Funktion zu übernehmen, als dies bei Bakterien der Fall war. Dieser Umstand wird von den Autoren folgendermaßen gedeutet:

Die enorme Populationsgröße der Bakterien ist daran schuld, dass sie von den Urzeiten des Lebens bis heute kaum komplexer geworden sind. Und zwar deswegen, weil die penible Selektion keinen Raum für Zufall und genetische Experimente ließ.

Robert Czepel, science.ORF.at
->   Indiana University, Bloomington
->   University of Oregon
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01.01.2010