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Auch früher war die Natur nicht "unberührt"  
  Gleichgültig ob innere oder äußere Natur des Menschen: Nur wenn sie "unberührt" ist, ist sie gut, Kultur und Zivilisation lassen sie verderben. So lautet zumindest ein bekannter Topos der abendländischen Tradition. Dass es sich dabei meist um Wunschvorstellungen der Gegenwart handelt, die in die Vergangenheit projiziert werden, haben nun amerikanische Ökologen bestätigt. Sie haben sich der vermeintlich unberührten Natur ihres Kontinents vor der Kolonialisierung durch die Europäer angenommen.  
"Edler Wilder": Imaginierter Urzustand des Menschen
Es ist ein geläufiges Motiv aus Gesellschaftstheorie und Literatur: der "Edle Wilde" - die imaginierte Urform des Menschen, die vor aller Zivilisation ein einfaches, aber gerechtes und glückliches Leben zugelassen haben soll.

Zu finden etwa bei dem französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau, dessen Spruch "Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen" auch gleichzeitig Programm seines Erziehungsromans "Emile" aus dem Jahr 1762 ist.
Sagt mehr über die Gegenwart aus
Ein verbindender Zug dieser und ähnlicher positiver Besetzungen eines Naturzustandes: Stets wird mehr über die Gegenwart der Autoren ausgesagt, in der sie geschrieben wird, als über die realen Verhältnisse der Vergangenheit. Mit einer Art rückwärts blickender Utopie soll der Ist-Zustand der Welt kritisiert werden.

Operiert wird mit diesem vermeintlichen Unschuldszustand der Natur aber nicht nur in den Geisteswissenschaften, sondern auch in jenen, die sich hauptberuflich mit der Natur beschäftigen: den Naturwissenschaften.
Nordamerika: Unbesiedelt und deshalb unberührt?
Ein Beispiel dafür haben nun die beiden Forstwissenschaftler Andrea Laliberte und William Ripple von der Oregon State University untersucht - und zwar den Urzustand von Fauna und Flora auf dem nordamerikanischen Kontinent vor der Besiedlung durch die Europäer.

Gemeinhin wird dabei von einem ungetrübten und unschuldigen Urzustand ausgegangen, in dem die Urbevölkerung Amerikas - von Columbus Indianer genannt - harmonisch mit ihrer Umwelt lebte, Büffel, Hirsche oder Elche inklusive. Dieser Urzustand wird bis heute als Modell für ökologische Vergleiche mit der Gegenwart herangezogen, sagen die beiden Forscher.
"Deutlicher Einfluss der Ureinwohner auf Tierwelt"
Das Fazit der von Laliberte und Ripple in der Fachzeitschrift "Bioscience" vorgestellten Studie: "Selbst die geringe Bevölkerungsdichte vor der europäischen Besiedlung hat zu deutlichen Auswirkungen auf die Tierwelt geführt."

Sich das Aussehen des Kontinents "ohne menschlichen Einfluss" vorzustellen, sei nahezu unmöglich. In Landstrichen, wo mehr Urbevölkerung lebte, war die Menge an Wildtieren deutlich geringer, wo weniger lebten, gab es dafür mehr Tiere.
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Der Artikel ist unter dem Titel "Wildlife Encounters by Lewis and Clark: A Spatial Analysis of Interactions between Native Americans and Wildlife" in "Bioscience" (Bd. 53, Nr. 10, S. 994-1003) erschienen.
->   "Bioscience"
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Lewis und Clark: Klassiker der Naturbeobachtung
Für ihre Studie griffen die Forscher auf einen Klassiker der Naturbeobachtung Nordamerikas zurück: die Aufzeichnungen von Meriwether Lewis und William Clark. Die beiden Naturforscher und Geographen wurden von Thomas Jefferson - der 3. Präsident der USA war auch Wissenschaftler - auf ihre historische Reise geschickt, die sie 1804 bis 1806 in den Westen des Kontinents führte.

Während der 28 Monate langen Expedition, auf der sie fast 13.000 Kilometer zurücklegten, beschrieben sie Hunderte von Pflanzen und Tieren, die der Wissenschaft bis dahin unbekannt waren.
Untersuchung der ökologischen Auswirkungen
 


Die Route von Lewis und Clark

Basierend auf ihren akribischen Tagebüchern untersuchten nun Ripple und Laliberte das Verhalten von neun ausgesuchten großen Säugetieren, den Einfluss der Menschen auf ihre Populationen und den Zustand der Fauna in fünf Ökoregionen.
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Die Website zur Expedition
Zu ihren Forschungen haben die beiden Wissenschaftler eine Website produziert, auf der man die historische Route - samt Tierbeobachtungen - nachvollziehen kann:
->   Wildlife Along the Lewis & Clark Trail
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Trotz dezimierter Bevölkerung ...
Zwar schwanken die Schätzungen über die Bevölkerungszahlen der Indianer vor dem Eintreffen der Kolonialisatoren erheblich (zwischen vier und 20 Millionen oder mehr), knapp 300 Jahre später war die Urbevölkerung durch von den Europäern eingeschleppte Krankheiten, Kämpfe etc. aber in jedem Fall drastisch dezimiert.
... starke Auswirkungen auf die Natur
Dennoch scheint auch sie große Auswirkungen auf die Tierwelt gehabt zu haben: Die Tierpopulationen sind laut Ripple und Laliberte in der Nähe der Siedlungen von amerikanischen Ureinwohnern deutlich kleiner gewesen.

Die größten Populationen und die höchste Biodiversität hätten sich in so genannten Pufferzonen zwischen verfeindeten Indianerstämmen gefunden. Dies liege daran, dass in diese umstrittenen Regionen besonders selten Menschen eindrangen.
Vorsicht vor "Unberührtheit"
Abschließendes Resümee von Ripple und Laliberte: Vorstellungen "unberührter Natur" seien mit Vorsicht zu genießen. Als Grundlagen ökologischer Theorien und Vergleichsmodelle für die Gegenwart taugen sie nach ihrer Ansicht jedenfalls wenig.

Nebeneffekt ihrer Studien: Zwar ist es unstreitig, dass die Indianer einen weit sorgsameren Umgang mit den natürlichen Ressourcen ihrer Umgebung betrieben haben als die europäischen Eroberer. Sie als "Edle Wilde" zu stilisieren, die in ungebrochener Eintracht mit der Natur lebten, spricht aber eher für die Projektsionsfähigkeit derer, die glauben, "die Zivilisation" gepachtet zu haben. Und weniger für komplexe Sachverhalte, seien es ökologische oder historische.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at
->   Discovering Lewis and Clark
->   William Ripple, Oregon State University
 
 
 
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01.01.2010