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Lexikon listet Germanisten in der NSDAP auf  
  Das bisher umfangreichste Germanisten-Lexikon sorgt für Aufregung, noch ehe es publiziert wurde. Mehr Wissenschaftler als bisher gedacht waren demnach Mitglieder in der NSDAP.  
Die österreichischen Germanisten haben sich dabei nicht anders Verhalten als ihre Kollegen aus dem "Altreich", unterstrich der Herausgeber des Lexikons, Christoph König, im science.ORF.at-Interview. Die Aufarbeitung der Zeitgeschichte in Österreich sei schon zuvor sehr umfassend gewesen, ergänzte Wendelin Schmidt-Dengler vom Institut für Germanistik der Universität Wien.
Zwei Jahrhunderte, 1.500 Biografien, 100 NSDAP-Mitglieder

Christoph König und seine Mitarbeiter vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach (DLA) stehen kurz vor dem Höhepunkt eines siebenjährigen Forschungsprojekts: der Publikation ihres "Internationalen Germanistenlexikons 1800-1950" (Verlag: de Gruyter), das nach Beschäftigung mit 10.000 Wissenschaftlern nun 1.500 Biografien sammelt.

Bei rund hundert Germanisten wurde festgestellt, dass sie zwischen 1933 und 1945 Mitglieder der NSDAP waren. Darunter befinden sich bekannte Namen wie der Tübinger Rhetorik-Professor Walter Jens, der Gründer des Literarischen Colloquiums Berlin, Walter Höllerer, und der erste Rektor des Berliner Wissenschaftskollegs, Peter Wapnewski.
->   Arbeitsstelle für die Erforschung der Geschichte der Germanistik (DLA)
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120 Österreicher in dem Lexikon
Von den rund 1.500 Biografien, die Eingang in das Lexikon gefunden haben, stammen 120 aus Österreich - was rein quantitativ Platz drei hinter Deutschland (rund 700 Einträge) und den USA (188) bedeutet. Der Grund: Die österreichische Germanistik ist laut König wegen der Vielfalt in der k. u. k. Monarchie schon sehr früh in Erscheinung getreten - so wurde in Krakau bereits 1850 ein erster Lehrstuhl errichtet, auch Prag sei in Folge bedeutsam gewesen.
->   Internationales Germanistenlexikon 1800-1950 (DLA)
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Überraschende Forschungsresultate
Während von vielen Germanisten ihre Mitgliedschaft bei der NSDAP bereits bekannt war, war mit Fällen wie jenem von Walter Jens - dem linksliberalen Gewissen der BRD - nicht zu rechnen. König zeigte sich auch von der Dichte überrascht, in der die zur NS-Zeit tätigen Literaturwissenschaftler Kontakt mit der Partei hatten.

Dennoch seien prinzipiell zwei Gruppen zu unterscheiden: jene, die aus Gesinnung oder Karrieregründen Parteimitglieder waren, und jene meist viel Jüngeren, die während des Zweiten Weltkriegs erst mit dem Studium begannen (aber bis 1950 eine Veröffentlichung in ihrem Fach vorlegen konnten - eines der Kriterien für die Aufnahme in das Lexikon).
Reines Gewissen von Jens
Zu Letzteren gehört auch Jens, der in einer ersten Reaktion "ein reines Gewissen" beanspruchte. Er habe nichts zu verbergen, und es habe für ihn auch nie einen Grund zum Vertuschen gegeben, "aber ich muss ja von der eigenen Vergangenheit erst einmal etwas wissen, bevor man sich outen kann", sagte Jens.

Ein Antrag auf Parteimitgliedschaft liege nicht vor, und eine Mitgliedskarte sei ihm nie ausgehändigt worden. "Das muss ein reiner Karteivorgang eines HJ-Jahrgangs gewesen sein", meinte Jens.
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Überblick über das Projekt
In einem Positionspapier aus dem Jahr 1996 geben die Autoren des Lexikons einen Überblick über die wesentlichen Bestandteile ihres Vorhabens. So wird unter anderem erklärt, warum der Untersuchungszeitraum auf 1800 bis 1950 festgelegt wurde und wie "Germanisten" überhaupt definiert werden können.

Ausgehend von der Feststellung, dass "wissenschaftsgeschichtliche Reflexion Teil der Selbstverständigung eines Faches ist und innerhalb der Disziplin ihren Ort haben sollte", hatten sich die Autoren auf ihre Arbeit gemacht.
->   Das Positionspapier (PDF-Datei)
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Mechanik aufzeigen wichtiger als Nazi-Nachweis
Seit dem Wochenende tobt in den deutschen Feuilletons jedenfalls eine zeitgeschichtliche Debatte. "Der Spiegel" beschrieb die neu entdeckten "Nazi-Germanisten" auf ihrem Weg "von Goethe zu Hitler", die "FAZ" sprach von einer "Sprachlosigkeit", die manche Vertreter der Disziplin befallen habe - und in der "Welt" beklagte man eine lediglich "sporadische Beschäftigung der Zunft mit diesem Kapitel".

Dass es König nicht um den investigativen Nachweis heimlicher NS-Mitgliedschaft geht, betonte er gegenüber science.ORF.at. Wichtiger als Enthüllungen ist dem gebürtigen Österreicher das Aufzeigen "großer Zusammenhänge", die "Durchleuchtung der Mechanik des universitären Systems".
Eine Geschichte der Kontinuität
Diese sei durch eine "Geschichte der Kontinuität" geprägt - vor, während und nach dem Dritten Reich hätten zum großen Teil die gleichen Personen das Bild der Institute geprägt.

Zu einer "Selbstregeneration" sei es nicht gekommen: So wurde etwa der bekannte NS-Germanist und Literaturhistoriker Josef Nadler nach 1945 nicht von der Universität Wien aus seinem Amt entfernt, sondern auf Betreiben der Alliierten.

Der letzte mit einem "Ehemaligen" besetzte Lehrstuhl wurde von Herbert Seidler 1975 verlassen, fügte Wendelin Schmidt-Dengler hinzu.
Deutschland - Österreich: Unterschiede erst nach '45
Generell könne man laut König den österreichischen Germanisten nicht nachsagen, "anfälliger" für NS-Gedankengut gewesen zu sein als ihre deutschen Kollegen. Das liege daran, dass sich die Zunft länderübergreifend und ganz allgemein der "deutschen Sache" sehr zugehörig gefühlt habe.

Nach 1945 habe sich das in Österreich schlagartig geändert - und aus vielen ehemaligen Goethe-Verehrern wurden ebensolche von Grillparzer - ein "Austriazismus" habe sich breit gemacht, der letztlich die Bedeutung der österreichischen Germanistik schwinden ließ, so König gegenüber science.ORF.at.
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Unter anderem findet man in dem Lexikon folgende österreichischen Germanisten, Hinweise auf ihre Parteimitgliedschaft in der NSDAP und ihre Karrieren inklusive: Herbert Seidler, Moriz Enzinger und Heinz Kindermann.
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Vorerst keine Fortsetzung
An eine Fortsetzung des Lexikons über das Jahr 1950 hinaus ist derzeit aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht gedacht.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at
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Christoph König (Hg.): Internationales Germanistenlexikon 1800-1950. Verlag Walter de Gruyter, Berlin, drei Bände, eine CD-ROM. Das Werk erscheint Mitte Dezember 2003.
->   Mehr zum Buch inkl. Probeseite (de Gruyter)
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->   Der Artikel im "Spiegel" (kostenpflichtig)
->   Der Artikel in der "FAZ"
->   Der Artikel in der "Welt"
->   Interview mit Walter Jens in der "Welt"
 
 
 
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01.01.2010