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Fliegen in flagranti: Artbildung genetisch nachgewiesen  
  Die Entstehung neuer Arten bereitet Laborwissenschaftlern mitunter Kopfzerbrechen: Der Prozess dauert viel länger als ein durchschnittliches Forscherleben - und ist daher nicht gerade einfach nachzuweisen. Amerikanische Genetiker haben Fruchtfliegen nun gewissermaßen auf frischer Tat ertappt. Sie zeigten, dass die Insekten gerade still und heimlich im Begriff sind, eine neue Spezies auszubilden.  
Das besondere daran: Die Situation scheint für den Nachweis im Experiment wie geschaffen. Wie Chung-I Wu und seine Mitarbeiter von der Chicago University berichten, sind offensichtlich eine simple ökologische Anpassung sowie ein einziges Gen die treibenden Faktoren dieser nun dokumentierten Artbildung.
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Der Artikel "Ecological Adaptation During Incipient Speciation Revealed by Precise Gene Replacement" von Anthony J.Greenberg, Jennifer R.Moran, Jerry A.Coyne und Chung-I Wu erschien in der Fachzeitschrift "Science" (Band 302, S.1754-7, Ausgabe vom 5.12.03).
->   "Science"
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Zwei Arten von Anpassungen
Wenn Evolutionsbiologen von "Anpassung" bzw. "Adaptation" sprechen, ist damit ganz neutral jedes Merkmal gemeint, das die Fitness des Lebewesens erhöht. Rein konzeptuell kann man dabei zwei Typen unterscheiden:

Zum einen "innere" Anpassungen, die für das problemlose Ablaufen der körperlichen Funktionskreise verantwortlich sind. Etwa die Tatsache, dass Gelenkskopf und -pfanne zusammenpassen oder die inneren Organe aufeinander abgestimmt sein müssen.
->   Mehr zu Evolution und Anpassung
Wie neue Arten entstehen
Zum anderen gibt es auch "äußere" Anpassungen, also solche Merkmale, die das Überleben unter speziellen ökologischen Bedingungen sichern.

Solche Merkmale hat man schon länger im Verdacht, die treibende Kraft für die Entstehung neuer Arten zu sein. Dies sollte - vereinfacht gesprochen - folgendermaßen vor sich gehen:

Zwei Populationen passen sich an die unterschiedlichen Lebensbedingungen an, werden voneinander isoliert - und bauen irgendwann eine genetische Paarungsbarriere auf: Und voila - eine neue Art ist geboren.
Probleme für Experimentatoren
Hier drängen sich sogleich zwei Einwände auf: Erstens ist aus theoretischer Sicht nicht klar, wie und ob Anpassung und Isolation zusammenhängen sollten.

Und zweitens ist aus experimenteller Perspektive nicht zu erwarten, dass so ein Prozess an ganz simple genetische Modifikationen gebunden sein sollte. Womit der Nachweis im Labor schlichtweg an der genetischen Komplexität zu scheitern droht.
Fruchtfliegen-Modell ist erfreulich einfach
Chung-I Wu und sein Team haben nun ein Modellsystem gefunden, das beide Probleme ziemlich elegant umgeht. Sie verwendeten das liebste Haustier der Genetiker, die Fruchtfliege Drosophila melanogaster.

Von dieser Art ist bekannt, dass sich die in Afrika beheimateten Populationen von allen anderen an einem Genlokus unterscheiden. Erstere tragen eine seltene Variante des so genannten ds2-Gens, das Z-Allel, während die Fliegen in den anderen Ländern dieser Welt das M-Allel ihr Eigen nennen.
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Die Funktion von ds2
Das ds2-Gen kodiert für ein Enzym, das in den Lipidstoffwechsel der Fliegen eingreift. Konkret handelt es sich dabei um eine so genannte Desaturase, die aus gesättigten Fettsäuren unter Ausbildung einer Doppelbindung einfach ungesättigte Fettsäuren herstellt.
->   Mehr zum Lipidstoffwechsel (FU Berlin)
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Enzym beeinflusst Pheromon-Produktion
Die biochemische Funktion des Enzyms wäre nicht besonders spannend, wenn sie nicht auch mit anderen Molekülen zusammenhinge, die wichtig für die Partnererkennung der Insekten sind.

Die Desaturase hat, wie man aus Vorstudien weiß, auch Einfluss auf die Herstellung von Kohlenwasserstoffen (d.h. CH-Verbindungen), die unter anderem als Pheromone verwendet werden.

Hier schließt sich die erste argumentative Schleife: Wenn die Gen-Varianten die Partnerwahl via Pheromonbouquet beeinflussen, dann kann sich daraus durchaus eine reproduktive Barriere zwischen den Populationen entwickeln.
->   Mehr zu Pheromonen in science.ORF.at
Warum erhält sich der genetische Unterschied?
Die Frage ist nur: Wie konnte die Natur diesen genetischen Unterschied ausbilden? Hier stellten Wu und seine Mitarbeiter die Hypothese auf, dass ds2 mit der Kältetoleranz zu tun haben könnte. Dieser Zusammenhang ist zumindest durch Untersuchungen an anderen Fliegenarten bekannt.
Gen-Austausch: Z- statt M-Variante eingefügt
Um ihre Vermutung zu überprüfen, verwendeten die amerikanischen Forscher eine neuartige Methode, mit der sich Genvarianten im Erbgut austauschen lassen, ohne dass der restliche genetische Hintergrund davon beeinflusst wird.

Konkret fügten sie die afrikanische Z-Variante in das Genom der kosmopolitischen Fliegen ein und verglichen deren Verhalten mit den beiden Ursprungspopulationen.
Afrikanische Fliegen sind kälteempfindlicher
Laborversuche ergaben, dass kosmopolitische Individuen mit einem künstlich eingefügten Z-Allel tatsächlich kälteempfindlicher wurden. Die Forscher vermuten, dass dies der Grund ist, warum sich das M-Allel in den anderen (und meist kälteren) Ländern ausbreiten konnte.

Nicht ganz so klar scheint die Deutung in einem anderen Punkt: Die Fliegen waren zwar weniger kältetolerant, allerdings resistenter gegen Nahrungsknappheit. Wu und seine Mitarbeiter bieten dafür jedoch keine Interpretation an.
Anpassung und Isolation sind gekoppelt
Überzeugend ist zumindest folgender Befund: Fliegen mit dem künstlich eingefügten Z-Allel wiesen ein klar verändertes Pheromonbouquet auf, das jenem der afrikanischen Populationen ähnelte.

Damit ist der Nachweis erbracht, dass Anpassung und genetische Isolation auf direkte und einfache Weise zusammenhängen können: In diesem Fall sogar durch die Vermittlung eines einzigen Gens.

Robert Czepel, science.ORF.at
->   Website von Chung-I Wu (University of Chicago)
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   Wie Klimaphänomene Tierpopulationen beeinflussen (13.11.02)
->   Die Entstehung einer neuen Art (20.6.01)
->   Der Weg zur eigenständigen Art (19.1.01)
 
 
 
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01.01.2010