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Wie sich "Elitegehirne" von anderen unterscheiden  
  Erst war es das Gewicht des Gehirns, dann die Vielfalt der Hirnwindungen, und schließlich waren es die Zellmuster. Irgendwie musste sich der große Geist von Schopenhauer, Lenin oder Einstein ja in ihren Gehirnen materialisiert haben. Die Elitegehirnforschung ist aber weit mehr als ein skurriles Stochern in der grauen Masse. Und sie dauert bis heute an.  
"Assoziationsathlet" Lenin
"Wir haben also in dem Lenin¿schen Gehirn auffallend große und besonders zahlreiche Pyramidenzellen in der III. Schicht, wie der Athlet durch eine besonders stark entwickelte Muskulatur charakterisiert ist. (...) Aus allen diesen Gründen lässt unser hirnanatomischer Befund Lenin als einen Assoziationsathleten erkennen."

Das "außergewöhnlich schnelle Auffassen" Lenins und sein "Wirklichkeitssinn" würden so verständlich, schrieb der deutsche Hirnforscher Oskar Vogt 1929.
Bestätigung von Genialität
Nach Lenins Tod im Jahre 1924 hatte Vogt auf Einladung der sowjetischen Regierung dessen Gehirn in jahrelanger Arbeit in 30.000 Schnitte zerlegt und unter dem Mikroskop akribisch untersucht. Vogt stand unter enormem Druck, die Genialität des Revolutionsführers zu bestätigen. Gleichwohl war er von seiner neuen Methode überzeugt.

Die Zellarchitektur analysierend, glaubte er, das Gehirn viel genauer kartieren zu können. Daher war er sicher, die Elitegehirnforschung des späten 19. Jahrhunderts hinter sich gelassen zu haben. Buchstäblich an der Oberfläche gebliebene Hirnanatomen wie Rudolph Wagner und Nikolaus Rüdinger hatten nämlich bloß an der Reichhaltigkeit und Vielfalt der Hirnwindungen das Genie erkennen wollen.
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Schopenhauer: "Zerstörungssinn sehr gross"
Die Körper und Köpfe großer Persönlichkeiten waren für die Hirnanatomen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein tabu - ganz im Gegensatz zu jenen von Hingerichteten und Fremden. Dann aber begann man, das Genie akribisch herauszupräparieren.

Dabei diktierte die Erwartungshaltung, was gesehen wurde. Über Schopenhauers Gehirn schrieb sein Biograf Wilhelm Gwinner 1862: "Thätigkeitssinn oder Zerstörungssinn sehr gross, ..., Thatsachensinn ziemlich gross."
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Projektionsflächen für Geniekult
Das Gehirn wurde zur Projektionsfläche und nährte einen für heutige Augen höchst skurrilen Geniekult. Die Gehirne großer Geister wurden zu wertvollen Preziosen, die, in Gläsern konserviert sowie in Form von Abgüssen und Zeichnungen, die Genialität ihrer Besitzer belegen und zelebrieren sollten.
Kein Randphänomen der Hirnforschung

Michael Hagner, Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich, beschäftigt sich seit Jahren mit diesem scheinbaren Randphänomen der Wissenschaftsgeschichte - mit dem Ergebnis, dass diese Art der Hirnforschung alles andere als ein marginales Phänomen war.

In seinem Buch "Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung", das Anfang nächsten Jahres erscheinen wird, beschreibt er die fortlaufende "Cerebralisierung" des Menschen.
->   Mehr über das Buch von Michael Hagner (Wallstein Verlag)
Beginn der Gehirn-Sammlerei um 1800 in Wien
Um 1800 herum wird aus dem "Seelenorgan" des Menschen, dem Interaktionsort mit der unsichtbaren Seele, das Gehirn. Die Schlüsselfigur für diesen Übergang ist der Anatom Franz Joseph Gall, der in Wien hirnanatomische Vorlesungen hielt, die wegen materialistischer Tendenzen verboten wurden. Gall baute eine Sammlung von Schädeln berühmter Personen auf, die sich heute teils in Paris, teils im Städtischen Rollett-Museum in Baden bei Wien befindet.

Seine Sammelleidenschaft ging so weit, dass sich die Wiener angeblich vor Schädeldiebstahl fürchteten. Die Nachwirkungen Galls in Wien haben jedenfalls dazu geführt, dass Haydns Schädel nach seinem Tod 1809 vom Rumpf getrennt und erst 1954 wieder mit den Gebeinen vereinigt wurde.

Es ist kein Zufall, dass Gall heute sowohl als Begründer der Elitegehirnforschung wie auch als Vater der modernen Lokalisationstheorie gilt. Das Gehirn wurde mehr und mehr als Träger individueller Eigenschaften und Fähigkeiten verstanden.
Bildgebende Verfahren belebten Lokalisationsforschung
In der Zeit nach 1945 verdrängte die funktionale die morphologische Analyse. Das Gehirn wurde entindividualisiert und entkörperlicht und in Analogie zum Computer als Recheneinheit verstanden und mittels Schaltplan repräsentiert.

Im Zuge der neuen bildgebenden Verfahren seit den Achtzigerjahren erhielt die Lokalisierungsforschung aber wieder neue Impulse, wodurch es auch zu einem gewissen Wiederaufleben der Elitegehirnforschung kam.
Einsteins Gehirn: Posthume Odyssee
So erregte vor wenigen Jahren eine Analyse von Einsteins Gehirn die Weltöffentlichkeit. Als Albert Einstein im April 1955 starb, entnahm ihm der Pathologe Thomas Harvey bei der Autopsie kurzerhand das Gehirn und legte es in Formalin ein.

Durch ein Arrangement mit Einsteins Familie konnte er es behalten, wusste die folgenden vierzig Jahre aber nichts Rechtes damit anzufangen. Der mit seinem Zufallsfund schlicht überforderte Nichtneurologe zerschnitt die Quelle der Relativitätstheorie in knapp 200 würfelförmige Blöcke.

Einen davon untersuchte die Neurowissenschaftlerin Sandra Witelson: Laut ihrer Publikation im Jahre 1999 seien Einsteins untere Parietallappen besonders entwickelt gewesen. Räumliches Auffassungsvermögen und mathematisches Denken - Überraschung! - hängen stark von dieser Region ab.
Zurück ins 19. Jahrhundert
Michael Hagner weist darauf hin, dass Witelson nur so tun konnte, als ob sie die neuen bildgebenden Verfahren anwenden würde. Angesichts der totalen Zerstückelung des Gehirns kam nur eine makroskopische Untersuchung in Betracht.

Witelsons Ergebnis führe, so Hagner, direkt zurück ins 19. Jahrhundert. Schaue man genau hin, lasse sich fast für jedes Gehirn in einer bestimmten Region oder Schicht eine von Witelson für Einstein reklamierte "einzigartige Morphologie" finden.

Oliver Hochadel, heureka
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Die Langfassung des Texts ist in der neuen Ausgabe von "heureka" - der Wissenschaftsbeilage des "Falter" - nachzulesen. Das aktuelle Heft widmet sich der Gehirnforschung und erscheint am 10. Dezember 2003.
->   "heureka"
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->   Michael Hagner, ETH Zürich
->   Das science.ORF.at-Archiv zum Thema "Gehirnforschung"
 
 
 
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01.01.2010