Host-Info
Sonja Puntscher-Riekmann
Forschungsstelle für Institutionellen Wandel und Europäische Integration, Österreichische Akademie der Wissenschaften
 
ORF ON Science :  Sonja Puntscher-Riekmann :  Gesellschaft 
 
Die Demokratisierung Europas: Ein fruchtlose Nabelschau?  
  Wen repräsentiert die Europäische Union? Die Mitgliederstaaten oder die einzelnen Bürger? Wenn diese Frage geklärt ist, dann könnte die EU sich als politische Gemeinschaft im internationalen Kontext präsentieren und ein Modell für regionale supranationale Zusammenschlüsse darstellen.  
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Ö1-Symposium "Zukunft Europas"
Der Beitrag ist ein erstes Thesenpapier zum Ö1-Zukunftssymposium "Zukunft Europas" am kommenden Mittwoch und Donnerstag, 9. und 10. Mai im RadioKulturhaus. Sonja Puntscher-Riekmann wird dort ein Referat zum Thema halten.
->   Programm
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1. Macht-Raum Europa
In Europa ist die Demokratie in eine kritische Phase eingetreten. Öffentliche Herrschaft wird heute in Räumen zwischen dem Nationalstaat und der Europäischen Union ausgeübt. Sie ist nur mangelhaft der demokratischen Kontrolle durch die Parlamente der Mitgliedstaaten und der Union unterworfen.

Im europäischen Interstitium der Macht ist das klassische Prinzip der Gewaltenteilung auch formal suspendiert. Hauptakteure dieser Herrschaft sind die nationalen Regierungen und ihre Administrationen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts scheint technokratische Herrschaft einen Höhepunkt erreicht zu haben.
2. Gefangene des Nationalstaats
Diese Form des Regierens vereitelt die Loyalität der Bürger und Bürgerinnen gegenüber der Europäischen Union. Sie bleiben Gefangene des Nationalstaates, dessen demokratisch-republikanische Ordnung jedoch zur leeren Hülle zu werden droht, während eine vergleichbare Ordnung auf supranationaler Ebene bis jetzt Wunschbild geblieben ist.

Seit Maastricht kreist die politische Debatte um das Demokratiedefizit der Union, ohne dass sie sichtbare Früchte getragen hätte. Von Amsterdam bis Nizza wurde das Problem vertagt. Zuletzt auf den sogenannten Post-Nizza-Prozess.
3. Grundrechtecharta - Kern einer neuen Verfassungsdebatte
Und doch gibt es Anlass zu Hoffnung. Parallel zur Regierungskonferenz 2000 und dem Basar um Stimmengewichtung im Rat und Verteilung der Kommissare tagte erstmals in der Geschichte der Union ein Konvent aus nationalen und supranationalen Parlamentariern, Regierungs- und Kommissionsvertretern zur Erarbeitung einer Europäischen Grundrechtecharta, die nach nur neun Monaten abgeschlossen war. Sie könnte den Kern einer neuen Verfassungsdebatte in Europa bilden, denn in den Grundrechten wird die Macht im Verhältnis zum einzelnen gezähmt.

Doch es gibt mehr: Nizza war zwar ein enttäuschendes Ereignis, scheint aber doch die Dynamik der Verfassungsdebatte, wie sie seit Joschka Fischer sich entfaltet, nicht gebremst zu haben. Was als zum Teil diffuse Privatmeinung des deutschen Außenministers begonnen hat, wird nun in einem föderalistischen Entwurf des deutschen Bundeskanzlers präzisiert.
4. Föderalismus und Lüge der supranationalen Ordnung
Der europäische Bundesstaat ist eine höchst umstrittene Vision. Auch wenn der Föderalismus zumindest im Prinzip das wichtigste Beispiel einer gelungenen Machtverteilung zwischen Zentrum und Peripherie darstellt, so löst er doch bei den meisten Politikern und Bürgern nicht-föderaler Staaten Ablehnung aus.

Dabei ist "Staat" der problematische Teil des Begriffes. Die Europäer leben seit einiger Zeit mit einer problematischen Lebenslüge, die von den Eliten gefördert und den Völkern gerne aufgenommen wird: Es ist die Lüge über den Charakter der supranationalen Ordnung, die über die Jahrzehnte kontinuierlicher Integration immer deutlichere Züge von Staatlichkeit offenbart.

Auf europäischen Ebene wird heute Macht ausgeübt, die ehedem den Staaten zukam. Dies ist denn auch der Grund, warum die Frage einer europäischen Verfassung überhaupt relevant geworden ist.
5. Machtverlust für die herrschende Technokratie
Doch Verhandlungen um eine neue Verfassung für die Europäische Union sind eine Hürde besonderer Art. Eine konstitutionelle Neuordnung der Macht geht immer mit Machtverlust für jene einher, die sie bisher ausgeübt haben.

In Europa heißt das Machtverluste für die herrschende Technokratie der nationalen und supranationalen Ebene. Die Regierungen selbst müssten einen solchen Machtverlust einläuten. Das erscheint in hohem Maße unwahrscheinlich, es sei denn die europäischen Eliten finden zu dem zurück, was die Größe von Politik überhaupt ausmacht: die Fähigkeit zur Neugründung einer Ordnung.
6. Europäische Repräsentanz: Staaten oder Bürger?
Die konstitutionelle Neuordnung der Europäischen Union hat neben der Frage nach Formen effizienten Regierens jene nach Formen legitimer Repräsentanz zu klären. Wer repräsentiert wen? Das ist die entscheidende Frage.

Es ist die Annahme aller Demokratietheorie und -praxis, dass Parlamente den Demos als Souverän repräsentieren. Doch gibt es seit Beginn der modernen Demokratie einen schwelenden Konflikt zwischen Repräsentanz durch das Parlament, jener durch die Regierung und durch Präsidenten, vor allem wenn letztere direkt gewählt werden.

Je mehr sich die Politik in den inter- und supranationalen Raum verlagert, umso stärker wächst der Repräsentanzanspruch der Exekutiven. In der Außenpolitik erschien das auch legitim.

Doch europäische Politik hat den Charakter klassischer Außenpolitik längst verloren, auf europäischer Ebene geht es nicht mehr ausschließlich um Repräsentanz der Staaten, sondern der Bürger und Bürgerinnen. Diese bildeten kein Volk, wird häufig eingewendet.

Doch dieser Einwand ist problematisch. Die Demokratiefrage stellt sich nicht dort, wo es ein Volk gibt, sondern wo Macht ausgeübt wird. Auch wenn wir den europäischen Demos im Plural deklinieren, bleibt die Frage: Welches Organ kann mit größtmöglicher Legitimität die Repräsentanz der europäischen Demoi gewährleisten?
7. Eurozentristische Nabelschau beenden
Wenn diese Frage beantwortet werden kann, dann könnten die Europäische Union und ihre Akteure auch ihre eurozentristische Nabelschau beenden und sich als politische Gemeinschaft im internationalen Kontext präsentieren. Sie könnte ein Modell für regionale supranationale Zusammenschlüsse darstellen, das weder auf Unterwerfung noch auf der Hegemonie einer Kerngruppe beruhte, sondern auf demokratischem Konsens. Das wäre in der Tat die Einlösung einer letzten Utopie in Europa.
Weitere Beiträge von Sonja Puntscher-Riekmann zum Thema "Europa" auf science.orf.at:
->   Vertrag von Nizza: Halbvolles oder -leeres Glas?
->   EU-Erweiterung: Östliche und westliche Perspektiven
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Mehr über das Internationale Symposion "Zukunft Europas" am 9. und 10. 5. im RadioKulturhaus.
->   RadioKulturhaus
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