Host-Info
Sonja Puntscher-Riekmann
Forschungsstelle für Institutionellen Wandel und Europäische Integration, Österreichische Akademie der Wissenschaften
 
ORF ON Science :  Sonja Puntscher-Riekmann :  Gesellschaft 
 
Vertrag von Nizza: Halbvolles oder -leeres Glas?  
  Am 18. und 19. Jänner fand im Jean-Monnet-Haus in Berlin eine Tagung zum Thema "Die Ergebnisse von Nizza -
Bewertungen aus Sicht von Wissenschaft und Politik" statt.
Ein Tagungsbericht.
 
In einer glücklichen Kombination von Europaforschern, Politikern und hohen Beamten, die an den schwierigen Verhandlungen der Regierungskonferenz 2000 teilgenommen hatten, zielte die Tagung des Instituts für Europäische Politik (IEP) und des Arbeitskreises Europäische Integration (AEI) auf eine Gesamtbewertung der durch den neuen Vertrag gestellten Weichen.
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Im Zentrum standen:
- die institutionellen Reformen der Kommission und des Rates,
- die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen im Rat
- die Erleichterungen für eine verstärkte Zusammenarbeit einer Mehrheit von Mitgliedstaaten
- die Neuerungen im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik(GASP)
- die Grundrechtecharta, neue Verfahren zur Fortentwicklung der Verträge unter Berücksichtigung des Konventsmodells, das erstmals bei den Verhandlungen zur Grundrechtecharta angewendet wurde
- und nicht zuletzt die Perspektiven einer neuen Europäischen Verfassung, die im Rahmen des sogenannten Post-Nizza-Prozesses entstehen soll.
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Keine Glanzleistung
Die Standpunkte waren erwartungsgemäß unterschiedlich, doch war der Tenor der Urteile allgemein zurückhaltend: Der Vertrag von Nizza ist keine Glanzleistung der Verhandlungspartner, so ließen sich die Urteile auf einen Nenner bringen.

Doch während die einen versuchten, den einzelnen Entscheidungen doch noch Positives abzugewinnen, indem man vor allem die Ermöglichung der Osterweiterung betonte, kritisierten die anderen die Stärkung des Rates gegenüber Kommission und Parlament, den verschärften Mangel an Transparenz und Klarheit des Vertrages und im allgemeinen die Untauglichkeit von Regierungskonferenzen als Mittel zur Vertragsänderung.

Vor allem jene Parlamentarier, die Mitglieder des Konvents zur Erarbeitung der Grundrechtecharta gewesen waren, lobten die Effizienz des Konvents, dem es in nur neun Monaten gelungen war, die auf breiten Konsens beruhende Charta zu verabschieden. Dementsprechend enttäuscht waren diese auch, dass der Charta in Nizza keine Rechtsverbindlichkeit zugestanden wurde.
Rückschritt der Integration?
Zentraler Kritikpunkt war die Schwächung der Kommission gegenüber dem Rat in wichtigen Politikbereichen wie der Handelspolitik. Überhaupt beklagten die Kritiker, dass die Regierungs- und Staatschefs in den Verhandlungen die Konstruktion Europas aus dem Auge verloren und ihren nationalen Vetorechten den Vorzug gegeben hatten.

Eine Reihe von Tagungsteilnehmern sprachen offen von einem Rückschritt der Integration.
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Mehrheitsentscheidung und Stimmgewichtung sind Fortschritt
Doch es gab auch optimistischere Töne getragen von den Erfahrungen der Vergangenheit, in der Fortschritte immer auch durch Stagnation konterkariert wurden.

Die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen und die neue Stimmengewichtung im Rat gehöre ebenso zu den Fortschritten wie die stärkere Flexibilisierung der Union. Doch wurde gerade letztere von anderen als Gefahr der Fragmentierung kritisiert.
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Notwendigkeit einer Europäischen Verfassung
Einigkeit bestand aber darüber, dass vieles, wenn nicht alles, vom
Post-Nizza-Prozess abhänge: Von der Fähigkeit der Verantwortlichen, die Verfassungsfrage Europas auf die Tagungsordnung zu setzen und neue Verfahren der Verhandlung zu entwickeln.

In diesem Sinne wurde auch die am gleichen Tag vom deutschen Bundeskanzler im Bundestag gehaltene Rede zum Post-Nizza-Prozess interpretiert: Gerhard Schröder sprach von der Notwendigkeit einer europäischen Verfassung, die dem Prinzip der
horizontalen und vertikalen Gewaltenteilung, dem Prinzip der
Kompetenzabgrenzung und dem Prinzip der Öffentlichkeit gerecht würde.
Prinzip Öffentlichkeit
Vor allem dem Prinzip Öffentlichkeit hatte der auf der Tagung anwesende schwedische Botschafter das Wort geredet, würde doch die aktuelle schwedische Ratspräsidentschaft neue Wege der Transparenz und der Partizipation beschreiten wollen.
->   Jean-Monnet-Haus
 
 
 
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